Recht und Ordnung oder Wilder Westen?
21. Januar 2013Ein denkbares Szenario: Im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet nähert sich ein Lkw einem Dorf. Dort ist Wochenmarkt. Er zieht Menschen aus der ganzen Region an. Im Lkw sitzen zwei Männer. Die Experten des Geheimdienstes in der amerikanischen Kommandozentrale versichern, dass es sich bei den Männern um Taliban handelt und dass der Lkw mit mehreren Hundert Kilo Sprengstoff beladen ist. Satellitenüberwachung, Kontaktleute am Boden, Bewegungsmuster und die Aufnahmen der Predator-Drohne, die über dem Ziel kreist, lassen keinen Zweifel: Dieser Lkw ist eine fahrende Bombe. Sie soll in wenigen Minuten auf dem Markt zur Detonation gebracht werden. Um das Blutbad aufzuhalten, gibt es nur noch eine Möglichkeit: die zwei Hellfire-Raketen der Drohne auf den Lkw abzufeuern.
Tödliche Kosten-Nutzen-Rechnung
Zwischen Juni 2004 und September 2012 entschieden sich Mitarbeiter des US-Geheimdienstes CIA und des Militärs mindestens 344 Mal für einen Drohnenangriff (52 Mal unter Präsident Bush und 292 Mal unter Präsident Obama). Sie berufen sich auf eine scheinbar einfache Kosten-Nutzen-Rechnung. Zwei getötete Taliban stehen gegen den Tod von Dutzenden Zivilisten bei einem Terroranschlag. Unbekannt ist, wie oft von einem Drohnen-Angriff abgesehen wurde.
Allerdings sind die Situationen fast nie so klar, wie in dem oben vorgestellten Szenario. Wie soll beispielsweise entschieden werden, wenn dem Lkw ein voll besetzter Bus folgt, wenn die Tötung der Taliban also mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zum Tod von unbeteiligten Zivilisten führt?
Bis September 2012 wurden allein in Pakistan durch Drohnenangriffe zwischen 2.562 und 3.325 Menschen getötet, unter denen 474 bis 881 Zivilisten waren. Das berichtet das Büro für Investigativen Journalismus, eine unabhängige NGO. Die Zahlen weisen deshalb eine hohe Streuung auf, weil die US-Regierung Drohnenangriffe grundsätzlich nicht kommentiert und die Datensammler auf Medienberichte und Zeugenbefragung in den Zielgebieten angewiesen sind.
Zunahme der Drohnenangriffe
Die Zahlen belegen, dass die Zahl der gezielten Tötungen durch Drohnen in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist. Die USA haben 2011 im Irak, in Afghanistan, Pakistan, Jemen, Somalia, Libyen und Mexiko auf Drohnen zurückgegriffen, um Terroristen, Kombattanten oder Kriminelle gezielt zu töten. Zurzeit wird ein Einsatz in Mali erwogen. Aber nicht nur die USA, sondern auch Israel, Großbritannien und Russland setzen auf die gezielte Tötung, um ihre Sicherheitsinteressen durchzusetzen.
Der technische Fortschritt und die Entwicklung unbemannter Drohnen haben die gezielte Tötung zum bevorzugten Mittel für die Kriege des 21. Jahrhunderts gemacht, wie der in den USA lehrende Sicherheitsexperte Armin Krishnan in seinem Essay "Gezielte Tötung" darlegt: "Die Predator-Drohne hat die Praxis der gezielten Tötung revolutioniert."
Pro und contra
Befürworter der gezielten Tötung führen als Argument ins Feld, dass sie im Vergleich zum konventionellen Krieg viel weniger Opfer unter der Zivilbevölkerung fordert. "Krieg werde gerechter und moralischer, wenn er sich nur auf die Schuldigen oder Verantwortlichen konzentriert", so fasst Krishnan die Argumente der Befürworter zusammen.
Kritiker wiederum vergleichen die gezielte Tötung mit einem Attentat, einer außergerichtlichen Hinrichtungen oder einem staatlich sanktionierten Mord. Sie bestreiten, dass gezielte Tötungen im Kontext des Krieges stattfinden, da sich die USA und Pakistan, um ein Beispiel zu nennen, nicht im Krieg befinden.
Aus völkerrechtlicher Sicht ist das entscheidend. Im Falle eines Krieges handelt es sich bei den Opfern um Kombattanten, bei denen die Tötung gemäß dem Kriegsrecht legal sein kann.
Befinden sich Angreifer und Opfer aber nicht in einem Krieg, dann ist eine gezielte Tötung eigentlich illegal, es sei denn, die Tötung verhindert eine unmittelbare Gefahr für andere. Ein Beispiel hierfür ist der so genannte finale Rettungsschuss, bei dem ein Polizist einen Geiselnehmer erschießen darf, sollte dieser das Leben seiner Geisel gefährden.
Derartige unmittelbare Bedrohungssituationen finden sich beim Drohnenkrieg in Pakistan allerdings höchst selten, wie der Bericht "Leben unter Drohnen" belegt, der im September 2012 von den juristischen Fakultäten der Universitäten Stanford und der New York School of Law veröffentlicht wurde.
Die Autoren kritisieren, dass die rigide Nachrichtensperre der US-Regierung eine juristische Aufklärung unmöglich macht: "Die USA erfüllen ihre internationalen rechtlichen Pflichten nicht, nämlich für Transparenz zu sorgen und Rechenschaft abzulegen." Krishnan fasst die juristischen Probleme abschließend zusammen: "Individuen werden in Abwesenheit aufgrund geheimer Beweise und in geheimen Verfahren zum Tode verurteilt."
Drohnenkrieg verfehlt Ziel
Hinzu kommt, dass eine hohe Zahl von Zivilisten durch die Drohnenangriffe ums Leben kommt. Das Kriegsrecht, wenn es denn zur Anwendung kommt, gestattet zwar Kollateralschäden, aber nur nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dem stehen empirische Studien zur Effektivität des Drohnenkriegs entgegen. Nur sehr selten werden Rädelsführer getötet. "Der Anteil so genannter hochwertiger Ziele ist extrem niedrig. Er liegt bei nur zwei Prozent", so Peter Bergen und Megan Braun von CNN. Wesentlich häufiger kommt es zur Tötung von unbeteiligten Zivilisten.
Die Folge davon ist eine zunehmende Destabilisierung der betroffenen Länder und eine Mobilisierung zusätzlicher Kräfte für den Feind, den man vorgibt zu bekämpfen. Krishnan zieht folgendes Fazit: "Die Drohnenangriffe haben die Terrorbedrohung in Pakistan deutlich verschlimmert. Die militärische Effektivität gezielter Tötungen ist mehr als fragwürdig."
Warum aber halten Staaten wie die USA trotzdem an der gezielten Tötung fest?
Krishnan nennt zwei wichtige Argumente. Unter der Regierung Bush war es gängige Praxis, Terrorverdächtige zu entführen, nach Guantanamo oder in Drittstaaten zu überstellen, wo sie jahrelang ohne Prozess festgehalten und zum Teil gefoltert wurden. Seitdem Obama das Ende der so genannten außerordentlichen Überstellungen verkündet hat, sind die USA, so Krishnan, "dazu übergegangen, Terroristen weltweit zu töten, statt sie gefangenzunehmen."
Ein zweiter Grund sei, dass die passive Terrorbekämpfung aufwändig ist und sich das Fehlen von Anschlägen nicht in innenpolitisches Kapital ummünzen lässt. "Es gibt daher den begründeten Verdacht, dass gezielte Tötungen hauptsächlich politisch und von Rache motiviert sind."