Polen am EU-Pranger
1. Juni 2016Mit ihrem Verfahren gegen Polen wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit betritt die EU-Kommission Neuland. Zum ersten Mal wendet die Juncker-Kommission ein Instrument an, das sie sich erst im März 2014 mit Unterstützung des Europäischen Parlaments, aber gegen Bedenken aus dem Ministerrat, also der Vertretung der nationalen Regierungen, zugelegt hat.
Der so genannte Rechtsstaatsmechanismus ist im Grunde nur ein formaler, strukturierter Dialog zwischen der Kommission und dem "Delinquenten". Der Mechanismus wurde als Vorstufe zum eigentlichen Sanktionsverfahren nach Artikel 7 der Lissabonner EU-Verträge eingeführt. Diese "politische Atombombe", wie sie die frühere Justizkommissarin Viviane Reding genannt hat, kann am Ende zum Entzug der Stimmrechte für das angeklagte Land führen. Den Artikel 7 hat die EU noch nie angewandt. Das traute man sich auch 2010 nicht, als die EU-Kommission eine Revision von Verfassungsänderungen in Ungarn verlangte.
Um nicht gleich mit der ganz großen Keule schwingen zu müssen, gibt es also jetzt das politische Vorspiel. Da sind EU-Kommission und polnische Regierung seit diesem Mittwoch mittendrin.
Was wirft die EU-Kommission Polen vor?
Der Vizepräsident der Kommission, Frans Timmermans, und seine Juristen werfen der polnischen Regierung vor, die Rechtsstaatlichkeit in Polen sei "systemisch gefährdet". Die Änderungen bei der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und die Beschneidung seiner Arbeitsweise schränkten die Unabhängigkeit der Justiz in einer Weise ein, die gegen die europäischen Rechtsstaatsprinzipien verstoße. Diese Grundsätze sind in den Lissabonner Verträgen festgeschrieben, die natürlich auch Polen als Mitgliedsland unterschrieben hat. Die Weigerung der Regierung, Urteile des Gerichts zu veröffentlichen und anzuerkennen, haben die Lage verschärft.
Wie reagiert die polnische Regierung?
Die nationalkonservative Premierministerin Beata Szydlo setzt auf schrille Töne. Sie sieht im Vorgehen der EU-Kommission einen Angriff auf die Souveränität Polens. Sie besteht darauf, dass ihre Partei nach einem überragenden Wahlsieg im letzten Jahr das Recht habe, Justiz, Medien und Politik so zu gestalten, wie es die Wähler ihrer Ansicht nach wünschten. Die persönlichen Verhandlungen von Timmermanns in Warschau brachten keine Annäherung. Szydlo wetterte im Parlament, die EU-Kommission wolle die EU zerstören: "Nicht Polen hat ein Problem mit der Kommission - die Kommission hat ein Problem mit sich selbst."
Gibt es einen Schiedsrichter?
Im Prinzip ist die sogenannte Venedig-Kommission des Europarates in Straßburg ein anerkannter Gutachter in kniffligen rechtsstaatlichen Fragen. Dieses Gremium aus europäischen und amerikanischen Staatsrechtlern wurde ausdrücklich von der polnischen Regierung um eine Meinung gebeten. Die Venedig-Kommission entschied aber im März gegen Polen. Plötzlich fühlte sich die Regierung in Warschau nicht mehr an ihre Zusage gebunden, das Urteil anzuerkennen.
Der Europarat ist ein Zusammenschluss europäischer Staaten, der vor allem die Wahrung der Menschenrechte überwacht. Er ist kein Organ der Europäischen Union.
Wie läuft das Verfahren jetzt ab?
Nach Eröffnung des Dialogs im Januar hatte die polnische Regierung vier Monate Zeit, ihr Vorgehen zu erläutern. Da die EU-Kommission bisher kein Eingehen auf ihre Bedenken erkennen kann, zündet sie jetzt Stufe zwei des Mechanismus: Sie veröffentlicht eine förmliche Warnung an Polen, zu rechtsstaatlichen Prinzipien zurückzukehren. Jetzt hat die Regierung in Warschau nur noch zwei Wochen Zeit, auf die Warnung zu reagieren. Wenn diese Frist ungenutzt verstreicht, wird die EU-Kommission eine konkrete Empfehlung abgeben, welche juristischen und politischen Schritte Polen unternehmen muss, um die Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und die Freiheit der Medien, zu wahren. Schlägt Polen diese Empfehlungen in den Wind, steht die Möglichkeit offen, doch noch die "Atombombe" zu zünden und ein Verfahren nach Artikel 7 des Lissabonner Vertrages einzuleiten.
Kann die EU Polen tatsächlich bestrafen?
Die EU-Kommission hat keine Möglichkeit Strafen gegen ein Mitgliedsland zu verhängen. Das könnte nur der Rat der Europäischen Union, also das Gremium, in dem alle Regierungen der 28 Mitgliedsstaaten sitzen. Der Rat kann nach Artikel 7 des EU-Vertrages mit vier Fünfteln Mehrheit feststellen, dass in Polen "die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der gemeinsamen Werte besteht. Polen würde Empfehlungen bekommen, diesen Mangel abzustellen. Sollte das nicht fruchten, kann der Rat feststellen, dass "eine schwerwiegende Verletzung" der gemeinsamen Werte vorliegt. Das muss einstimmig geschehen. Polen hätte kein Stimmrecht. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass alle übrigen 27 Mitgliedsstaaten - Großbritannien noch mitgerechnet - wirklich die polnische Regierung bloßstellen würden. Ungarns Premier Viktor Orban hat sich bereits solidarisch mit Polen erklärt. Als letzten Schritt könnte der Rat dann Strafen gegen Polen verhängen: entweder die Stimmrechte entziehen oder finanzielle Mittel streichen. Polen ist immerhin größter Nutznießer der EU-Fördertöpfe. Für die konkrete Verhängung der Strafen ist nur noch eine qualifizierte Mehrheit notwendig.
Wird es soweit kommen?
Das ist im Moment schwer vorstellbar. In Brüssel ist die EU-Kommission eigentlich eher darauf bedacht, nicht noch mehr Krisen in der EU zu befeuern. Andererseits muss die Kommission als "Hüterin der EU-Verträge" auf ihre Glaubwürdigkeit achten. Klar ist, dass der Rechtsstaatsmechanismus und das Verfahren nach Artikel 7 noch viele Monate, wenn nicht Jahre dauern würden. Außerdem könnte die polnische Regierung prüfen, ob sie gegen einzelne Schritte Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhebt.
Bislang ist die EU in solchen Streitfällen immer noch ohne förmliche Strafen ausgekommen. Ungarns nationalistischer Premier Orban lenkte nach lautstarkem Streit mit der EU-Kommission 2012 halbwegs ein. Die Ächtung Österreichs im Jahr 2000, als die rechtspopulistische FPÖ in die Regierung eintrat, verlief im Sande. Die Neo-Faschisten in Italiens Regierung unter Silvio Berlusconi wurden ebenfalls nicht sanktioniert. Die Schwelle für Strafen liegt relativ hoch. "Nur als Viktor Orban damit schwanger ging, die Todesstrafe wieder einzuführen, war die rote Linie in Sicht", so ein EU-Diplomat. Hätte Orban das durchgezogen, hätte es mit Sicherheit ein Strafverfahren nach Artikel 7 geben müssen.