Schottische Lektion für Cameron
19. September 2014Viele Schotten erscheinen am Freitag unausgeschlafen auf der Arbeit, in der Universität oder Schule. Entweder haben sie die ganze Nacht vor dem Fernseher oder im Pub mitgefiebert, oder sie sind sehr früh aufgestanden, um die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses mitzuerleben. Gegen 5.30 Uhr war nach der Auszählung der meisten Stimmzettel klar, dass Schottland nicht unabhängig werden will. 55 Prozent der Schotten stimmten für einen Verbleib im Vereinigten Königreich, 45 Prozent stimmten den Argumenten der Nationalisten zu, die Schottland nach 307 Jahren wieder als Staat etablieren wollten. Eine hochbetagte Dame dürfte sich ganz besonders gefreut haben. Die Queen, so berichten Quellen aus dem königlichen Palast, hatte den größten Teil der Nacht ebenfalls vor dem Fernseher verbracht - und zwar in Schottland auf ihrem Schloss Balmoral. Offiziell äußerte sich die Monarchin nicht, das tat ihr Premierminister um kurz nach 7 Uhr in London.
Premierminister David Cameron sprach vor seinem Amtssitz in der Downing Street voller Erleichterung davon, dass sein "geliebtes vereinigtes Königreich" nicht zerbrochen sei in dieser historischen Nacht. Cameron zollte den Schotten Respekt für ihre faire Abstimmung und den Wahlkampf. Dann ging er in die Offensive und kündigte eine Staatsreform für ganz Großbritannien und Nordirland an. "Wir haben jetzt eine großartige Gelegenheit, die Methode zu ändern, wie Briten regiert werden. Wir können es besser machen. Politiker auf allen Seiten haben jetzt die Verantwortung, konstruktiv zusammen zu arbeiten, um die Interessen der Menschen in Schottland, aber auch in Wales, Nordirland und England, in unserem Vereinigten Königreich besser zu vertreten." Premierminister David Cameron hatte den Schotten in letzter Minute im Wahlkampf mehr Autonomie versprochen, um das wachsende Lager der Separatisten zu schwächen.
London kündigt Staatsreform für alle Landesteile an
Die Rechnung ging am Ende auf, jetzt muss Cameron gegen den Widerstand der eigenen konservativen Partei liefern. Er will auch Forderungen aus Wales und England nach eigenständigen regionalen Parlamenten entgegenkommen. Es soll eine Art Föderalismus entstehen, den das Königreich bislang nicht kannte. "Genau so wie Schottland separat über seine Angelegenheiten bei Steuern, Wohlfahrt und dem Haushalt abstimmen wird, sollten auch England, Wales und Nordirland in der Lage sein, über diese Belange selbst zu entscheiden. All das muss inhaltlich und zeitlich parallel zu der Übereinkunft mit Schottland ablaufen", sagte Cameron in London am frühen Morgen. Und es soll schnell gehen. Schon im Januar sollen die entsprechenden Gesetzentwürfe vorliegen. Eine Arbeitsgruppe habe er bereits eingesetzt, so Cameron.
Im Mai 2015 wird ein neues Parlament für Großbritannien gewählt. Die Staatsreform, die auf das Votum aus Schottland folgt, wird eines der Hauptthemen sein, schätzt die Politik-Professorin Kirstein Rummery von der Stirling-Universität in Schottland. Die Eile, die Premier Cameron jetzt an den Tag legt, hält sie allerdings für problematisch. "Wenn jetzt ein großes Gesetzespaket in ein paar Monaten oder gar Wochen verabschiedet wird, dann wird es kaum Gelegenheit geben, die breite Öffentlichkeit einzubeziehen. Es werden also wieder nur Politiker sein, die untereinander etwas aushandeln", sagte Rummery in der BBC. Das eigentlich großartige an dem Referendum in Schottland sei aber gerade die Mobilisierung der Öffentlichkeit für Politik gewesen. Die Wahlbeteiligung lag bei 84,5 Prozent, der höchste Wert in der schottischen Geschichte überhaupt. Einer Staatsreform müsste neben dem Unterhaus auch das Oberhaus, die zweite Kammer, in London zustimmen. Diese Zustimmung ist nach Einschätzung vieler Experten keineswegs sicher.
"Schottland wird als eine Nation vorangehen"
Die unterlegenen Anhänger einer schottischen Unabhängigkeit, die über zwei Jahre geworben und gekämpft hatten, sind natürlich enttäuscht. Der Chef der schottischen Nationalisten und Regierungschef Alex Salmond kündigte überraschend am Freitagnachmittag seinen Rücktritt an. "Ich übernehme die Verantwortung für alle Fehler, die während der Kampagne gemacht wurden," sagte Salmond vor Journalisten. Er war der dienstälteste "Erste Minister" in Schottland und die treibende Kraft hinter dem Unabhängigkeits-Referendum. Ein Parteitag der schottischen Nationalisten soll im Oktober einen Nachfolger bestimmen.
Salmond forderte seine Anhänger vor seinem Rückzug auf, mit dem politischen Gegner jetzt für Schottland einzustehen. "Ich akzeptiere das Urteil des schottischen Volkes. Ich rufe alle Schotten auf, es mir gleich zu tun und das demokratische Urteil anzuerkennen", sagte Salmond unter großem Beifall am Morgen in Edinburgh. Auch der Anführer der siegreichen "Nein"-Kampagne, der schottische Labour-Politiker Alistair Darling, rief zur Versöhnung auf. "Die schweigende Mehrheit hat heute Nacht gesprochen", sagte Darling in Glasgow. Schottland werde sich verändern und mehr Rechte bekommen, versprach Darling.
Der zurückgetretene Regierungschef Schottlands, Alex Salmond, sagte, es sei Zeit die Verantwortung jetzt in andere Hände zu legen. Die anstehenden Verhandlungen mit der Regierung in London sollen nun andere führen. Er sei stolz darauf, dass die Unabhängigkeits-Bewegung so groß geworden sei. Das Referendum habe die schottische Politik grundlegend verändert. "Wir haben Teile der Gesellschaft für Politik begeistert, die sich zuvor nie dafür interessiert haben. Die Gesellschaft hat aber auch uns Politiker berührt und verändert. Ich glaube, von hier aus werden wir nie wieder zum gewohnten politischen Alltagstrott zurückkehren können." Sein politisches Lebensziel, die staatliche Unabhängigkeit Schottlands, werde er nicht mehr erreichen, räumte Alex Salmond ein. "Das ist für eine Generation oder eine ganze Lebenszeit entschieden", sagte er vor seinen Anhängern.
Versöhnung nach emotionaler Entscheidung
Der scheidende Chef der Nationalisten geht nicht verbittert. "Lasst uns nicht über den Abstand zu den Gewinnern reden. Lasst uns lieber von der weiten Strecke sprechen, die wir zurückgelegt haben. Wir sind zuversichtlich, dass die Bewegung breit angelegt weiter geht. Wir sollten als eine Nation voranschreiten", rief er seinen Anhängern zu. Die Partei Salmonds, die SNP, änderte ihr Motto bereits in "One Scotland". Der siegreiche Unionist Alistair Darling verfolgt das gleiche Ziel und sagte, Schottland könne stolz sein, auf die vorbildliche, demokratische Abwicklung des historisch einmaligen Referendums. Besonders bemerkenswert findet er die Mobilisierung und das Interesse unter den 16- und 17-jährigen Schotten, die zum ersten Mal abstimmen durften.
Bis auf ein paar betrunkene Pub-Besucher im Schottenrock, die sich mit politischen Gegnern Wortgefechte in Glasgow lieferten, blieb es im ganzen Land ruhig, berichtet die Polizei. Ein Pfarrer der anglikanischen Kirche in Edinburgh rief seine Landsleute zu versöhnlichen Gesten auf. Die Gewinner sollten auf die traurigen Verlierer zugehen und ein gemeinsames "Selfie"-Foto mit dem Handy schießen und in den sozialen Netzwerken veröffentlichen. Auf der Royal Mile, die zum Edinburgher Schloss hoch über der Stadt führt, begann der Freitag danach wie jeder andere Tag. Die Andenkengeschäfte sind geöffnet und die Cafés bereiten sich auf den Touristenstrom vor, auch im neblig-feuchten Wetter. Die Besitzerin eines Geschäfts, in dem Kilts und Kitsch angeboten werden, sagte, ein Gutes habe das Referendum auf jeden Fall: "Ich habe zwar mit Ja gestimmt, aber der ganze Rummel war natürlich weltweit eine preiswerte Werbung für Schottland. Ich glaube, es werden mehr Besucher und Touristen kommen."