Kanzler erwartet Entgegenkommen der Ukraine
4. Mai 2022Bewegt sich etwas im diplomatischen Streit um die im April abgesagte Reise von Frank-Walter Steinmeier in die Ukraine? Grundsätzlich bleibt der Kanzler dabei: "Es ist ein Problem, dass der Präsident der Bundesrepublik Deutschland ausgeladen wurde. Das steht im Raum", sagte Olaf Scholz zum Abschluss einer Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg und begründete damit noch einmal, warum er vorerst nicht in die Ukraine fahren will. Aber der deutsche Regierungschef räumt ein, dass er sich auch Gedanken darüber macht, wie das Problem aus der Welt geschafft werden könnte. Bedingungen wolle er nicht formulieren, aber: "Die Ukraine muss ihren Beitrag leisten."
Inzwischen diskutiert die gesamte Republik darüber, ob sich der Bundeskanzler richtig verhält oder nicht. Daran ist die Kritik des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk nicht ganz unbeteiligt. "Eine beleidigte Leberwurst zu spielen klingt nicht sehr staatsmännisch", hatte Melnyk gesagt. "Es geht um den brutalsten Vernichtungskrieg seit dem Nazi-Überfall auf die Ukraine, es ist kein Kindergarten."
Bundesbürger stehen mehrheitlich hinter Scholz
Laut einer Meinungsumfrage gibt jeder zweite Deutsche Scholz Recht in seiner ablehnenden Haltung. 49 Prozent der von YouGov befragten Bürger halten es für angebracht, dass der Bundeskanzler nach der Absage an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April nicht in die Ukraine reisen will. 32 Prozent finden es hingegen eher oder sehr unangemessen. 19 Prozent machten bei der Umfrage keine Angabe.
Scholz' Absage und die Diskussion darüber klangen auch während der Klausurtagung in Meseberg dauernd mit. Das lag auch daran, dass CDU-Chef Friedrich Merz zeitgleich nach Kiew reiste. Über die Nachrichten und die sozialen Medien konnten die Ampel-Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP praktisch live verfolgen, wie sich der Oppositionschef mit einem kurzen Video aus dem Schlafwagen meldete, wie er mit Bürgermeister Vitali Klitschko und dem ukrainischen Parlamentspräsidenten sprach, den Kiewer Vorort Irpin besuchte und schließlich auch noch von Wolodymyr Selenskyj empfangen wurde.
Signal nach Berlin
Das Treffen des ukrainischen Präsidenten mit dem deutschen Oppositionsführer war ursprünglich nicht vorgesehen und ist protokollarisch äußerst ungewöhnlich. Beobachter vermuten, dass es als Signal in Richtung Bundesregierung verstanden werden kann. Der ukrainische Botschafter Melnyk betont immer wieder, dass sich seine Regierung freuen würde, wenn der Bundeskanzler nach Kiew kommen würde.
Etwa eine Stunde dauerte das Gespräch von Selenskyj mit Merz, ein Foto zeigt den ukrainischen Staatschef im olivgrünen T-Shirt anschließend beim Handschlag mit dem Gast aus Deutschland. "Deutschland steht an der Seite der Ukraine und ihrer mutigen Bevölkerung", sagte Merz später. "Ich bin wirklich vollkommen erschüttert nicht nur gewesen, ich bin es immer noch, diese Bilder gehen einem nicht mehr aus dem Kopf", schilderte er seine Eindrücke aus Irpin.
"Das muss man gesehen haben"
Kulturzentren, Kindergärten, Kirchen und Krankenhäuser seien "völlig wahllos" und mit schweren Waffen zerstört worden. "Das muss man mal gesehen haben, um die ganze Tragik solcher Angriffe zu erfassen." Dem Bundeskanzler empfahl Merz, ebenfalls nach Kiew zu reisen. "Diese Gespräche können Sie nicht am Telefon machen, die können Sie auch nicht mit Videokonferenzen machen, Sie müssen diese Gespräche persönlich führen."
Auf die Frage, ob seine Gesprächspartner in der Ukraine sich gewundert hätten, dass zuerst der Oppositionschef nach Kiew kommt, sagte Merz am Abend in einem TV-Interview im ZDF: "Ja, das kann man so sagen."
"Es wird eine Lösung geben"
Man kann davon ausgehen, dass Merz den Kanzler bewusst unter Druck setzen wollte. Scholz' Weigerung ist für die frühere Regierungspartei CDU eine politische Steilvorlage. "Wenn ich Oppositionspolitiker wäre, wäre ich auch gefahren", sagte der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Der Vizekanzler geht fest davon aus, dass in absehbarer Zeit auch ein Mitglied der Bundesregierung in die Ukraine reisen wird. "Da wird es eine Lösung geben. Wir reden ja dauernd miteinander."
Habeck gehört zu denen, die schon vor dem Krieg dafür plädierten, Waffen in die Ukraine zu liefern. Im Sommer 2021 hatte er das Land besucht und sich anschließend entsprechend positioniert. Damals war er auch in der eigenen Partei damit auf massiven Widerspruch gestoßen.
Im Auswärtigen Amt wird umorganisiert
Ob Habeck nach Kiew reisen wird? Oder Bundesaußenministerin Annalena Baerbock? Die Grünen-Politikerin hatte eine Reise bereits geplant, sollte aus protokollarischen Gründen aber erst nach dem Bundespräsidenten fahren. Die Ausladung Steinmeiers habe die Reiseplanung erschwert und man müsse deswegen nun "alles etwas umorganisieren" und schauen, "was wie am meisten Sinn macht", so die Außenministerin. Einen Termin nannte sie nicht, der werde aus Sicherheitsgründen auch vorab nicht bekannt gegeben. "Solche Reisen werden genau vorbereitet, aber es sind ja keine Tourismusreisen."
Der Bundespräsident hat unterdessen auf einer Rumänienreise betont, dass er gegenüber dem ukrainischen Präsidenten weiterhin gesprächsbereit sei. "Wir Deutsche unterstützen die Ukraine aus vollem Herzen", sagte Steinmeier in Bukarest. Diese Unterstützung bringe er bei Besuchen wie in Rumänien zum Ausdruck - "und natürlich auch im Austausch mit meinem ukrainischen Amtskollegen, wenn das möglich ist".
Höfliche Einladung an den Kanzler?!
Ob dieser Wink in Kiew ankommt? In Deutschland hatte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, dem ukrainischen Botschafter am Dienstag empfohlen, versöhnende Worte zu finden. "Vielleicht, lieber Herr Melnyk, entschuldigt man sich einfach mal beim Präsidenten und lädt dann den Kanzler höflich ein, zu kommen."
Nachdem, was Olaf Scholz in Meseberg gesagt hatte, könnte ihm das reichen.