Die erste moderne Kunstschau
21. September 2012860.000 Besucher sind in den letzten Monaten nach Kassel zur dOCUMENTA (13) geströmt. Ein Rekord. Der Anspruch dieser wichtigsten deutschen Kunstausstellung ist seit 1955, Kunst aus aller Welt auf der Höhe der Zeit umfassend zu zeigen. Das gilt bis heute. Eben diesen Anspruch hatten auch schon die Macher der so genannten Sonderbundausstellung in Köln im Jahre 1912 formuliert. "Die vielumstrittene Malerei unserer Tage" sollte dokumentiert, der "Moderne zum Durchbruch verholfen werden". Die Macher der Schau - ein Verband aus Künstlern, Sammlern, Museumsfachleuten und Galeristen - hatten Sendungsbewusstsein. Dem Publikum sollte gezeigt werden: So wird gemalt in Europa! Das sind die Väter der Avantgarde! So wurde die Ausstellung zur wichtigsten Präsentation der europäischen Moderne in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg.
Erste Ausstellung modernen Typs Die Sonderbundausstellung gilt noch heute als ein wichtiger Vorläufer der Documenta. Und nicht nur das. Viele Kunstwissenschaftler bewerten die Kölner Schau als erste Kunstausstellung modernen Typs, als Beginn einer neuartigen Ausstellungs-Epoche. So verwundert es nicht, dass diese so ungemein wichtige und folgenreiche Kunstschau nach genau 100 Jahren "wiederbelebt" worden ist. Von den rund 650 Gemälden der historischen Ausstellung, zeigt das Wallraf-Richartz Museum nun 120 Bilder noch einmal in Köln. "1912 - Mission Moderne" lautet der Titel dieser wiederbelebten Ausstellung.
"Was den Organisatoren 1912 gelang, war die erste große Übersichtsdarstellung der Moderne - und zugleich deren Manifestation in Deutschland", betont Barbara Schaefer im Gespräch mit der Deutschen Welle. Schaefer hat die Ausstellung in mehrjähriger Arbeit akribisch vorbereitet.
Das breite Publikum war noch nicht so weit "Die Sonderbundschau ist als Prototyp heutiger Kunstausstellungen anzusehen, wollte sie doch zum vergleichenden Sehen anleiten. Hierin liegt ihre vorrangige Bedeutung, als erstes - und damit vielleicht wichtigstes - Vorbild aller nachfolgenden Ausstellungen kunsthistorischen Anspruchs", so Barbara Schaefer. Die Schau war damals eine Sensation - aber kein Erfolg. Das bürgerlich geprägte Publikum war noch nicht so weit. "Das Publikum wundert sich, dass es zunächst nur Verrenkungen, Verzerrungen sieht, in die kein Sinn zu bringen ist", notierte Hermann von Wedderkop, der damals das Begleitheft zur Ausstellung schrieb. Und ein zeitgenössischer Reporter gab sich überzeugt, dass "die Gemälde eher in die Sammlung eines Nerven- oder Irrenarztes als in eine öffentliche Kunstausstellung" gehörten.
Im Rheinland war man aufgeschlossener
Die Verrenkungen und Verzerrungen stammten von Künstlern wie Vincent van Gogh und Paul Cézanne, Pablo Picasso und Wassily Kandinsky, August Macke und Emil Nolde. Die meisten Künstler von damals gehören heute zum Kanon der Moderne. Das war 1912 freilich anders: Im deutschen Kaiserreich war das Klima alles andere als aufgeschlossen, das Kunstverständnis war noch tief im 19. Jahrhundert verankert. Die Bilder und Skulpturen im kaiserlichen Berlin zu zeigen, wäre undenkbar gewesen. Das industriell aufstrebende Rheinland mit seinen vielen Sammlern und der Nähe zu Frankreich bot sich als Ausstellungsort eher an. Wiewohl es auch dort harsche Kritik gab und Unverständnis vorherrschte. Die heimische Lokalzeitung mutmaßte zur Eröffnung, man müsse die Bilder vor Übergriffen schützen, damit "die Tollwut kein Lynchgericht an ihnen vollzieht."
Umstritten waren nicht zuletzt die Bilder aus dem benachbarten Ausland und deren - von den damaligen Kuratoren herausgestellter - Einfluss auf die deutsche Kunst. "Die Sonderbundausstellung war nicht nur eine bewusste Demonstration für die fruchtbaren Einflüsse aus dem Ausland, sondern bewies umgekehrt auch den wahrlich internationalen Charakter der jungen deutschen Moderne", meint Barbara Schaefer. Vincent Van Gogh (Fischerboote am Strand von Saintes-Maries-
de-la-Mer, unser Bild oben), der allein mit über 100 Bildern vertreten war, wurde zum Fixstern der Schau, aber auch andere Franzosen wie Paul Cézanne, Maurice Denis oder Paul Signac wurde viel Platz eingeräumt. Darüber hinaus tauchten noch unbekannte Künstler wie Pablo Picasso oder Kandinsky auf. Auch Österreicher (Egon Schiele und Oskar Kokoschka), Skandinavier (Edvard Munch), Schweizer (Giovanni Giacometti, Ferdinand Hodler) und Holländer (Kees van Dongen, Piet Mondrian) waren zu sehen. Deutschland war mit Künstlergruppen wie dem "Blauen Reiter" und "Die Brücke" vertreten. Was den überwiegenden Teil der Besucher verschreckte, war vor allem die Auflösung der Formen, das dargebotene Menschenbild, der Umgang mit Farbe. Alles Dinge, die heute eher entzücken denn irritieren, damals aber wie Sprengstoff in den Augen der Betrachter wirkten.
Neue Hängung - und Marketing!
Ungewohnte Wege gingen die Ausstellungsmacher vor 100 Jahren nicht nur mit der Auswahl der Künstler. "Neu waren die Abkehr vom Typus der reinen Verkaufsausstellungen, die Präsentation auf weißen Wänden sowie das umfassende Marketing", sagt Barbara Schaefer. Vor 1912 war es üblich, dass Bilder in dicht gedrängter Hängung über- und nebeneinander zu sehen waren. All das veränderte die Sonderbundausstellung. Sie war nichts weniger, als der "Abschied von konzeptionslosen Sammelschauen des 19. Jahrhunderts". Und was heute selbstverständlich ist, Kataloge und Kurzführer, Broschüren und ein Erfrischungsraum, Marketing und Plakate, all das nahm damals seinen Anfang.
Auch in den USA löste die Ausstellung ein großes Echo aus. Und nicht nur das. Der wichtigste amerikanische Künstlerverband richtete 1913 in New York eine ähnlich geartete Schau aus. Die Kunst der Moderne begann auch in der Neuen Welt ihren Siegeszug. Und in Europa? "Die Sonderbundausstellung hatte für den Kunstmarkt einen Effekt, der erst wieder 43 Jahre später mit der Documenta 1 in Kassel vergleichbar werden sollte", so die Kunstwissenschaftler Bernd Klüser und Bernadette Hegewich.
Eine Ausstellung mit Folgen bis heute
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, dürfte kaum eine Kunstschau in den folgenden Jahrzehnten eine derartige Sogwirkung entwickelt haben. Große Kunstschauen wie die Documenta lösen heute trotz der gewaltigen Zuschauermassen nicht mehr derartig heftige Reaktionen aus - mal abgesehen von den aufgeregten Debatten im Feuilleton. Zu sehr hat man sich an die alle Formen und Inhalte sprengende Kunst gewöhnt, zu sehr hat die Avantgarde Einzug gehalten auch im bürgerlichen Denken: "Der Mensch unserer Zeit lebt inmitten einer reizüberfluteten Welt, die ihn stetig mit neuen Eindrücken fordert", sagt Barbara Schaefer, "dies dürfte ein Grund sein, warum Kunstwerke heute nicht mehr so zu irritieren vermögen." Die aktuelle Kölner Schau dürfte ein größerer Publikumserfolg werden als das Original. Auch wenn man den "Schock der Moderne", der damals die Besucher erfasste, heute kaum noch nachvollziehen kann: Es bleibt die Erkenntnis, dass von Deutschland damals ein Signal ausging. Die Welt der Kunst wurde erschüttert. Zumindest für einen kurzen Zeitraum. Zwei Jahre später stürzte der Ausbruch des 1. Weltkriegs die Menschheit ins Chaos.
Zur Ausstellung ist ein monumentaler Katalog erschienen: "1912. Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes", Wallraf Richartz-Museum/Wienand-Verlag, Köln 2012, 648 Seiten, zahlr. SW und Farbabbildungen, ISBN: 978 3 86832 111 1.