Renaissance des deutschen Radsports?
30. September 2014Die Gesichtszüge gezeichnet, die Augen leer, die Haut verdreckt von Regen und Schmutz - als John Degenkolb das Ziel bei der Rad-WM in Ponferrada erreichte, wirkte er komplett bedient. Erschöpft legte er die Arme auf seinen Lenker und schaute dem Treiben um ihn herum einen Moment lang zu, während ein Betreuer ihm eine Flasche Wasser reichte. Nach 255 Kilometern Radrennen durch den Regen Nordspaniens raste er ein paar Meter hinter dem polnischen Solo-Sieger Michal Kwiatkowski als Neunter über den Zielstrich. Es dauerte nicht lange, bis sich der Kapitän der deutsche Rad-Nationalmannschaft gesammelt hatte und das Erlebte in Worte fassen konnte.
"Es war ein superschweres Rennen. Es hat sehr viel Kraft gekostet, sechseinhalb Stunden die Konzentration zu wahren. Ich war am Limit", sagte der Frankfurter Radprofi, der zuvor sechs Tage lang wegen angeschwollener Lymphknoten im Krankenhaus verbracht hatte. Doch der Klassiker- und Sprintspezialist wollte den WM-Start unbedingt, trainierte sogar im Krankenhaus auf der Rolle. Degenkolb ist ein Kämpfer und besitzt eine im Radsport entscheidende Niemals-aufgeben-Mentalität. Und das sah man im WM-Rennen. Mit gefletschten Zähnen kämpfte sich Degenkolb über den finalen Anstieg und im Sprint der Verfolger immerhin zu Platz neun. Das Beste herausgeholt, auch dank einer starken mannschaftlich Leistung - für Degenkolb ein Fingerzeig für die Zukunft: "Wir sind auf dem besten Weg den Radsport in Deutschland wieder populär zu machen".
Auf dem Weg in eine bessere, sauberere Zukunft?
Solche Sätze sagen die Protagonisten des deutschen Radsports schon seit Jahren. Lange klang das wie Zweckoptimismus, denn strukturell änderte sich trotz zahlreicher Erfolge nichts: Keine deutschen Sponsoren, immer weniger deutsche Profi-Rennen, keine TV-Übertragungen. Doch jetzt scheint sich das Rad wieder zu drehen: Gleich zwei deutsche Sponsoren steigen zur neuen Saison in den Profiradsport ein. Das Küchentechnik-Unternehmen Bora übernimmt das bisherige Netapp-Team, das in diesem Jahr erstmals bei der Tour starten durfte, und der Shampoo-Hersteller Alpecin steigt beim bislang noch niederländischen Giant-Team ein, für das Marcel Kittel und John Degenkolb fahren. "Ein sehr gutes Signal", freut sich Degenkolb. Steht der Radsport hierzulande also vor einer Renaissance?
Ja und zugleich nein.
Beginnen wir mit dem "Ja": Viel spricht derzeit dafür, dass die Radrennen wieder aus ihrer von der Öffentlichkeit weitgehend ignorierten Nische zurück ins Rampenlicht kehren werden. Eine extrem erfolgreiche Generation verwöhnt deutsche Radsportfans derzeit mit Titeln und Siegen, die das wieder wachsende Publikum begeistern und Nachwuchsfahrer inspirieren. 14 deutsche Etappensiege durch die Stars Marcel Kittel, John Degenkolb, Tony Martin und André Greipel bei den Grand Tours 2014, den großen dreiwöchigen Landesrundfahrten Tour de France, Giro d'Italia und Vuelta, sprechen eine eindeutige Sprache. Dies tun auch die fünf WM-Medaillen von Ponferrada, darunter Weltmeistertitel für Lisa Brennauer bei den Damen, sowie für die Junioren Lennard Kämna (Zeitfahren) und Jonas Bokeloh (Straßenrennen). Namen, die man sich ebenso merken muss wie die von Rik Zabel, angehender Klassikerspezialist im BMC-Team und Sohn des Ex-Profis Erik Zabel, sowie die von Silvio Herklotz und Phil Bauhaus, zwei großen Talenten, die derzeit noch im drittklassigen Stölting-Rennstall geformt werden. An Hoffnungsträgern mangelt es der Radsportnation Deutschland also nicht.
Übrigens auch nicht an einer Basis: Jedermann-Rennen mit Tausenden Teilnehmern sind in den letzten Jahren in Deutschland entstanden und gewachsen - ausgerechnet in Zeiten der Krise des Profiradsports. Ebenfalls für das "Ja" spricht das mediale Echo der jüngsten deutschen Erfolge: Die ARD überlegt derzeit konkret, wie ein Wiedereinstieg in die Live-Berichterstattung von der Tour de France aussehen kann. Galt die Tour seit dem Ausstieg aus der Übertragung 2011 bei den Programmverantwortlichen noch als nicht mehr vermittelbar, deutet ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky nun einen Vorzeichenwechsel an: "Ich glaube, dass der Radsport in den letzten Jahren enorme Anstrengungen unternommen hat. Das gilt es anzuerkennen", so Balkausky und ergänzt mit einem Hauch von Selbstkritik: "Wir müssen aufpassen, dass wir keine Sportart an den Rand stellen und so tun, als wäre das die einzige Sportart, in der es diese Thematik gibt."
Vom Schmuddelkind zum Vorbild
Der Radsport könnte es also tatsächlich aus der Schmuddelecke heraus schaffen. Dafür spricht auch das wiederentdeckte Interesse der deutschen Sponsoren am Radsport, der lange auch Großunternehmen wie der Telekom als vergleichsweise günstige, aber reichweitenstarke Werbe-Plattform galt - bis die Dopingskandale den Radheroen beinahe jegliche Glaubwürdigkeit nahmen. Nun scheint sich der Wind wieder zu drehen, vielleicht auch, weil Experten wie der Kölner Dopinganalytiker Hans Geyer sagen, dass der Radsport "das beste Kontrollsystem weltweit" und somit "Vorbildcharakter" habe.
Auch der seit einem Jahr amtierende Präsident des Weltradsportverbands UCI, Brian Cookson, verweist nicht ohne Stolz auf Fortschritte: So untersucht derzeit ein unabhängiges, dreiköpfiges Komitee die ungeheuerlichen Vorwürfe gegen die alte UCI-Spitze unter Hein Verbruggen und Pat McQuaid, die Dopingskandale vertuscht haben soll. Zudem setzt die UCI ab 2015 ein unabhängiges Anti-Doping-Tribunal ein, das einheitliche Sanktionen bei Dopingfällen verhängt und damit an die Stelle der manchmal sehr unterschiedlichen Rechtsprechung der jeweiligen Radsport-Landesverbände tritt.
Doch es bleiben Zweifel
Klingt alles irgendwie zu schön, um wahr zu sein. Denn so umfassend hat sich der Radsport dann doch nicht geändert, wie er uns gerne weismachen will, womit wir beim "Nein" wären. Nicht nur, dass auch in diesem Jahr wieder erfolgreiche Radprofis wie der zweifache Giro-Etappensieger Diego Ulissi positiv getestet wurden, nein es sind auch die schieren Leistungen, die bei manchen Experten Zweifel auslösen: So sieht der französische Sportwissenschaftler Antoine Vayer die Leistungen von Toursieger Vincenzo Nibali als "übermenschlich" an. Vayers Analysemodell, das die Leistungen der Tour-Besten am Berg berechnet, ist wegen seines pauschalen Ansatzes nicht unumstritten, gilt jedoch als annähernd valide. Ist der Profiradsport denn jetzt glaubwürdig?
Ex-Radprofi Jörg Jaksche meint: Nein. "Wenn man mich fragen würde, ob ich mein Geld auf die Sauberkeit des Profiradsports verwetten würde, würde ich ganz klar sagen: 'Nein!' Es gibt viel zu viele Lippenbekenntnisse", kritisierte der geständige Doper im DW-Gespräch und erkennt immer noch ein strukturelles Problem: "Anders als bei der UCI gab es in den Teams kein Stühlerücken. Die Leute, die in der Vergangenheit das immense Dopingsystem mit aufgebaut und bezahlt haben, also die vom alten Schlag wie Bjarne Riis [Teamchef bei Tinkoff-Saxo, Anm. d. Red.] oder Patrick Lefevere [Teamchef bei Omega Pharma-Quickstep, Anm. d. Red.], die sind immer noch in Amt und Würden. Also weshalb sollte sich dort etwas verändert haben?" Eine berechtigte Frage, auf die der Radsport eine Antwort geben muss.
Neuer Umgang mit dem Tabuthema
Eine positive Veränderung sieht jedoch auch Jörg Jaksche: Der Druck von außen auf das System Profiradsport hat zugenommen. Sponsoren und Fernsehen wollen einen transparenteren Sport. John Degenkolb und Kollegen haben das verstanden. Ganz im Gegenteil zur erwiesenermaßen dopingverseuchten Vorgängergeneration gehen die Stars der Gegenwart offen mit dem Thema Doping um und unterschrieben eine Anti-Doping-Ehrenerklärung, meiden das einstige Tabuthema nicht und fordern harte Strafen sowie auch endlich ein Anti-Doping-Gesetz in Deutschland. Vielmehr als das können Kittel, Degenkolb, Martin und Co. derzeit nicht tun für eine Renaissance des deutschen Radsports - oder doch, eines schon: sauber bleiben.