Armes reiches Land
14. Oktober 2009Dennoch ahnte der 1942 geborene Journalist nicht, was auf ihn zukommen würde, als er vor drei Jahren beschloss, erneut in die Rolle und Haut anderer Menschen zu schlüpfen. Günter Wallraff hätte es nämlich nicht für möglich gehalten, dass man in einem Callcenter unter dem dort üblichen permanenten psychischen Druck zum Verkaufsbetrüger werden kann, dass man Obdachlose bei minus 15 Grad einfach sich selbst überlässt. Oder dass Rassismus in Deutschland etwas Alltägliches ist.
"Aus der schönen neuen Welt" ist die eindringliche Sammlung von Reportagen überschrieben, die von Wallraffs Expeditionen ins Landesinnere berichten. "Die Realität", sagt er rückblickend, "stellt in vielen Fällen die Phantasie in den Schatten. Und manchmal auch die Satire." Denn ausgemacht habe er nicht mehr nur Missstände, sondern "sich ausbreitende Zustände" in einer "wahrhaft asozialen Parallelgesellschaft."
Schöne neue Welt
An vielen Stätten dieser "schönen neuen Welt" ist Günter Wallraff selbst gewesen. Beispielsweise hat er sich in Obdachlosenheimen einquartiert und die kältesten Tage des Jahres auf der Straße verbracht. Oder er hat als Niedriglöhner bis zur Erschöpfung in einer Fabrik gearbeitet, die für den Discounter Lidl Brötchen backt. Weitere Reportagen stützen sich auf Erfahrungsberichte aus erster Hand – sie spielen in der Luxusgastronomie, bei "Starbucks", der Deutschen Bahn und erzählen ausführlich von Arbeitgebermobbern und Betriebsratskillern.
Er habe, sagt Günter Wallraff, immer an eine Evolution geglaubt. An eine stetige Entwicklung hin zu mehr Menschlichkeit und mehr Gerechtigkeit. Inzwischen aber habe er den Eindruck, dass sich etwas rückwärts gewendet habe, dass soziale Standards außer Kraft gesetzt und Rechte abgebaut würden. Die deutsche Gesellschaft teile sich zusehends in immer Ärmere und immer Mächtigere, Reichere. Und dieses Auseinanderklaffen bedeute für die Gesellschaft eine Zerreißprobe.
Alltäglicher Rassismus
Für eine seiner Undercover-Recherchen hat sich Günter Wallraff von einer Maskenbildnerin in einen Schwarzen verwandeln lassen. Begleitet von einer angeblichen Ehefrau und deren zwei Töchtern, bemühte er sich in der Nähe der westdeutschen Kleinstadt Minden vergeblich um einen Campingplatz. "Anderer Kulturkreis", "Die bauen ja nichts an", "Rasen mähen tun sie nicht", wurde die Ablehnung vor Publikum begründet.
Während einer Kahnfahrt im ostdeutschen Städtchen Wörlitz wird Wallraff für die Bedienung gehalten, eine Verkäuferin in einem Cottbusser Juweliergeschäft hält in seiner Anwesenheit krampfhaft eine goldene Uhr fest, sie fürchtet, bestohlen zu werden. Und in Köln will ihm niemand eine Wohnung vermieten, nur, weil er schwarz ist.
Er habe gedacht, sagt Günter Wallraff, Fremdenfeindlichkeit sei primär ein Problem des Ostens Deutschlands. Aber dem sei nicht so. Denn als Schwarzer sei er überall im Land um seine Würde gebracht worden, habe offene Aggressivität, kaltes Abwimmeln und verlogene Freundlichkeit erfahren.
Reaktionen erwünscht
Mit seinem Buch will der unerschrockene Autor nun aufrütteln und zu Veränderungen beitragen. Dass das gelingen kann, zeigen Reaktionen auf Vorab-Veröffentlichungen einzelner Reportagen im Magazin der Wochenzeitung DIE ZEIT: so sollen in der Stadt Frankfurt am Main beispielsweise Container-Siedlungen für Obdachlose abgebaut werden und neue, menschenwürdigere Quartiere entstehen. Aber Günter Wallraff rechnet auch mit Anfeindungen und Gerichtsprozessen. Seine Aussagen seien alle durch Zeugen abgesichert, sagt er gelassen. Sollte es dennoch zu Verboten kommen, habe er weiteres Material. Und das sei noch härter als das nun veröffentlichte.
Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Elena Singer
Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere. Paperback, Verlag Kiepenheuer & Witsch.