Kulturhauptstädte mit Charme
1. Februar 2020Touristen war Rijeka bislang eigentlich keinen Halt wert - die meisten huschten nur auf der Durchreise nach Opatija oder anderen typisch malerischen Städten an der Adria vorbei. Denn Rijeka hat keinen einladenden Strand mit Sonnenliegen und bunten Schirmen. Aber das braucht die Stadt auch nicht - ihr Charme liegt ganz woanders.
Rijeka ist die Schnittstelle zwischen Mittel- und Südosteuropa. Die Hafenstadt ist eine Mischung aus mittelalterlichen Festungen, Prunk-Palästen aus der Habsburgerzeit, Jugendstilmarkthallen, italienischen Piazzas, sozialistischen Plattenbauten und verlassenen Fabrikhallen, die wachgeküsst werden wollen - wer braucht denn da bitte noch einen Strand?
Rijeka: Querschnitt der Epochen
Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte Rijeka zur kaiserlich und königlichen Monarchie, von 1924 bis 1945 war der größere Teil der Stadt unter italienischer Vorherrschaft. Es folgte der Vielvölkerstaat Jugoslawien, in dem Rijeka zu einer sozialistischen Musterstadt mit Werften, Raffinerien und Fabriken heranwuchs. Die Bevölkerungszahl stieg von 25.000 auf 200.000 Einwohner. Nach dem Zerfall Jugoslawiens mussten viele Industrien schließen, die Fabriken verwandelten sich in apokalyptische Kulissen. Viele Menschen wurden arbeitslos - übrig blieb der Dienstleistungssektor und das Auswandern. Heute leben in Rijeka noch 130.000 Menschen.
Aus alt mach neu
Insgesamt 40 Millionen Euro EU-Förderung hat Rijeka für dieses Jahr bekommen. Aber im Gegensatz zu anderen Kulturhauptstädten will die Stadt an der Kvarner Bucht keine neuen Gebäude bauen. Rijeka bewahrte das Alte - und macht daraus Neues. "Die verlassenen Industriegebäude sind Teil der Stadtidentität, sie haben einen narrativen Wert, deswegen haben wir uns entschieden, diese nicht abzureißen, sondern sie umzugestalten", sagt Irena Kregar Šegota, Kommunikationsleiterin für Rijeka 2020.
Wie zum Beispiel das ehemalige Fabrikgelände "Rikard Benčić" in der Krešimirova Straße: Auf dem 27.000 Quadratmetern großen, brachliegenden Areal werden nun vier neue Kultureinrichtungen ihr Zuhause finden.
Auch das Schiff "Galeb" (auf Deutsch "Möwe") - ehemals ein Fracht- und Militärschiff, dann Titos Yacht - soll bis Ende des Jahres in ein Museum umgewandelt werden. Bei Touristen kommt das Vorhaben der Stadt gut an, anders als bei einigen Bewohnern. "Einige identifizieren dieses Schiff nur mit Tito und Jugoslawien und sind skeptisch, wie dieses Kapitel unserer Geschichte dargestellt wird, aber unser Ziel ist es, die ganze Geschichte des Schiffes zu zeigen, die lange vor Tito begonnen hat und sehr spannend ist. Und außerdem glauben wir, dass das Schiff als Museum eine beliebte touristische Attraktion und dadurch eine gute Einnahmequelle für die Stadt sein könnte", sagt Irena Kregar Šegota.
Offen, tolerant und multikulturell
Rijekas pulsierende Kulturszene lockt viele Freischaffende und Freiheitsliebende an, Rijeka war schon immer dynamisch und progressiv. Es ist die Geburtsstätte des kroatischen Punks mit Bands wie "Paraf" und die der ersten Rockband in Ex-Jugoslawien, die "Uragani".
"Hafen der Vielfalt", so lautet das Motto, das sich Rijeka gegeben hat. Der Hafen ist das Tor zur Welt, durch das viele Nationalitäten, Kulturen und Religionen gekommen sind. Sie machen Rijeka zu einer ganz besonderen Stadt. Anders als das stark konservative Kroatien, ist Rijeka toleranter, offener, freier. Hier findet das LGBT-Festival "Smoqua" statt - ohne Vorkommnisse, nicht so in anderen Teilen des Landes, in dem die rechten Kräfte wieder an Aufwind gewinnen. "Rijeka ist eine tolerante Stadt, eine, die die Unterschiede nicht nur akzeptiert, sondern auch lebt. Wir sind auch die erste Stadt in Kroatien, die Teil des Europarat-Netzwerks "Intercultural Cities" ist. Deswegen haben wir uns auch für das Motto "Hafen der Vielfalt" entschieden. Dieses Motto richten wir als Frage an Europa: Inwiefern ist Europa bereit, die Unterschiede zu akzeptieren?", fragt Irena Kregar Šegota.
Galway: "Wie Barcelona, nur im Regen"
Eine Landstraße im Vordergrund, Berge im Hintergrund und ein Ziegenbock, der skeptisch in die Kamera guckt: So präsentiert sich die Stadt Galway im Internet. Natur pur. Für die Kultur muss man ein bisschen nach unten scrollen. Aber dann kommt's: Musik, Tanz, Literatur, Poetik. Es gibt für jeden etwas.
Die kleine Universitätsstadt mit knapp 80.000 Bewohnern liegt an der irischen Westküste - am Ende Europas, mit Blick auf den Atlantik. "Amerika ist der nächste Stopp", sagt Kreativdirektorin Helen Marriage bei der Vorstellung des Kulturprogramms. Galway gilt als Hochburg für traditionelle, irische Musik: An jeder Ecke spielen Straßenmusiker - trotz des schlechten Wetters. "Galway ist wie Barcelona mit Regen, denn hier regnet es 240 Tage im Jahr", so Marriage weiter. Und wer nicht mit der lokalen Spezialität "Dauerregen" klar kommt, kehrt einfach in den nächsten Pub ein. Davon finden sich unzählige und es geht stets heiter zu - mit lokalen Getränken und Musik ist gute Stimmung garantiert.
Europäische Kulturhauptstadt in Zeiten von Brexit
Galway befindet sich etwa 160 km von der Grenze zum britischen Nordirland. Das erhitzt die Gemüter angesichts Großbritanniens Austritt aus der EU. Viele befürchten ein Wiederaufflammen des Nordirlandkonflikts, in dem Tausende Menschen starben und Zehntausende verletzt wurden. "Das Festival kommt gerade zur rechten Zeit. Wir brauchen die Kultur mehr denn je", sagte der irische Botschafter in London, Adrian O'Neill. Sie könne geistige Haltungen ändern.
Die Programme der beiden Kulturhauptstädte Rijeka und Galway beginnen am 1. Februar mit offiziellen Eröffnungszeremonien. Im Laufe des Jahres wird sich Galway in 2000 Veranstaltungen den drei Schwerpunktthemen Sprache, Landschaft und Migration widmen.
Rijeka startet in sein Kulturhauptstadt-Jahr mit einer "Opera Industriale", bei der mehr als 100 Mitwirkende mit
Musikinstrumenten, Maschinen, Glocken und Chorgesängen den Sound der Industrie wiedererwecken werden. Das weitere Programm der kroatischen Kulturhauptstadt kreist um die Themen Wasser, Arbeit und Migration.