Rio versinkt in Melancholie
11. Februar 2021Die Pandemie hat der Stadt am Zuckerhut ihre wichtigsten Feste genommen. Erst musste die weltberühmte Silvesterparty an der Copacabana, zu der normalerweise jährlich rund drei Millionen Feiernde kommen, abgesagt werden. Und nun trifft es auch den Karneval.
Über 18.000 Menschen sind bislang allein in Rio de Janeiro an COVID-19 gestorben. Angesichts der immer noch hohen Infektionszahlen und der schleppend anlaufenden Impfkampagne einigten sich die für die Sambaschulen und den Straßenkarneval zuständigen Verbände, nun auch auf einen ursprünglich für Juli geplanten "Ersatzkarneval" zu verzichten.
"Im Karneval kommt man zusammen, fasst sich an, man küsst sich, man teilt sich ein Glas Bier oder ein anderes Getränk. Bei diesem Fest können wir keine Corona-Protokolle anwenden", sagt Rita Fernandes, Präsidentin eines Verbandes von Straßenkarnevalsgruppen in Rios Südzone.
"Deshalb haben wir als die Organisatoren des Straßenkarnevals gemeinsam entschlossen, den Karneval 2021 nicht durchzuführen. Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes. Aber es gibt keinen anderen Ausweg, keine andere Möglichkeit. Es wäre unverantwortlich, den Karneval jetzt durchzuführen."
Schwerer Schlag für die Wirtschaft
Auf dem Spiel stehen jeweils rund 100.000 Arbeitsplätze im Kulturbereich, in der Hotelbranche und in der Gastronomie. Laut Medienberichten sind im Laufe der Pandemie bereits 20.000 Stellen in der Hotellerie und knapp 10.000 Stellen in der Gastronomie weggebrochen.
Und die Aussichten sind schlecht. Derzeit sind in Rio für die jecken Tage nur 35 Prozent der Hotelbetten ausgebucht. Mit Preisnachlässen von 30 Prozent hoffen die Hotels, kurzfristig wenigstens die Hälfte der Zimmer belegen zu können.
Im vergangenen Jahr hatte die Stadt noch einen Rekord-Karneval mit einer hundertprozentigen Auslastung der Hotels, mit insgesamt 2,1 Millionen Touristen und mit einem Umsatz von umgerechnet rund 600 Millionen Euro gemeldet. Normalerweise feiern schätzungsweise 1,5 Millionen Touristen Karneval in der Stadt, zwölf Prozent davon kommen aus dem Ausland.
Klamme Sambaschulen
Der auf den Karneval spezialisierte Journalist Aydano André Motta sieht die imposanten Zahlen der Tourismusbranche skeptisch. In Rio de Janeiro würden solche Zahlen gerne immer ein wenig nach oben korrigiert, sagt er gegenüber der DW.
Natürlich treffe die Absage den Tourismussektor hart. "Aber am meisten leidet die arme Bevölkerung, die im Karneval sowohl bei den Vorbereitungen der Umzüge der Sambaschulen mitarbeitet, als auch im informellen Sektor rund um die Straßenkarnevalsgruppen. Beides sind wichtige Einnahmequellen, und die Einschnitte sind dramatisch".
Das Hauptproblem sei der informelle Charakter der Arbeitsverhältnisse zwischen den Sambaschulen und ihren Hunderten von Mitarbeitern. Die Bezahlung erfolge cash auf die Hand, Sozialabgaben oder Sozialversicherungen würden nicht bezahlt.
Die ohnehin stets klammen Sambaschulen hätten nun, da ihre Aktivitäten stillliegen, keine Mittel, um die Mitarbeiter weiter zu beschäftigen. Und diese stehen nun ohne soziale Absicherung da.
Lebensmittel statt Kostüme
Wagner Gonçalves, der "Carnevalesco", also künstlerische Leiter der Sambaschule "Estácio de Sá", hat im zweiten Halbjahr 2020 das Projekt "Barracão Solidário" (Solidarische Lagerhalle) gestartet, das arbeitslose Mitarbeiter alle zwei Monate mit Lebensmittelpaketen versorgt.
"Das hat deren finanziellen Sorgen zwar nicht wirklich gelindert, aber es hat ein wenig geholfen, uns zusammengeschweißt und menschliche Wärme herübergebracht", sagt Gonçalves im Gespräch mit der DW.
"Eine solche Aktion ist typisch für uns Brasilianer und gehört zum Karneval dazu. Es war wichtig, diese symbolische Umarmung zu geben. Wir haben viel Liebe, viel Kraft und Energie zurückbekommen, um die Hoffnung hoch zu halten."
Wer kann, hilft sich selber. Eigentlich wäre Thamires Mattos, eine Tänzerin der Sambaschule "Portela", in dieser Jahreszeit mit Marketingevents ausgebucht. Doch die meisten Auftritte seien weggebrochen.
"Ich musste mich selber neu erfinden. In der Quarantäne habe ich begonnen, bei Familien zu putzen. Und ich habe in Bars als Kellnerin gejobbt. Ich musste mein Leben umgestalten, um eine Einnahmequelle zu haben, um weiter meine Rechnungen bezahlen zu können", sagt sie gegenüber der DW. "Aber wir Brasilianer fallen immer wieder auf die Füsse, und ganz sicher wird am Ende alles gut."
Vorbereiten für 2022
„Wie bei allen Sambaschulen haben die Angestellten den schlimmsten Schlag einstecken müssen", sagt Alex Fab, Karnevals-Direktor der Sambaschule "Viradouro", gegenüber der DW. "Und indirekt sind auch die Zulieferer betroffen." Eine ganze Schicht von Leuten, die sonst im Karneval arbeiteten, versuche gerade, sich neu zu erfinden, obwohl dies nicht der beste Zeitpunkt sei.
"Viradouro" ist eine der wenigen Sambaschulen, die trotz der Absage des Karnevals versucht, die Mitarbeiter weiter zu beschäftigen. So arbeitet eine reduzierte Gruppe bereits an den Ideen für die Umzüge 2022. "Zwanzig von eigentlich zweihundert Mitarbeitern konnten wir so halten."
Man sehe mittlerweile Land, so Fab. Für Mitte des Jahres erwarte man die ersten Raten aus den TV-Übertragungsrechten für den Karneval 2022, die vom TV-Sender "Globo" an die Sambaschulen gezahlt werden. Zudem habe man in Bürgermeister Eduardo Paes einen Karneval-Fan, der Bereitschaft signalisiert habe, den Sambaschulen finanziell zu helfen.
"Dass wir dieses Jahr ohne Karneval verbringen müssen, wird die Sehnsucht der Menschen nur noch steigern", ist sich Direktor Alex Fab sicher. "So Gott will, werden wir bald die Impfungen haben, und dann wird der nächste Karneval der größte Karneval der Geschichte werden."