Rios Polizei auf Konfrontationskurs
7. Februar 2014Erst schießen, dann fragen - mit diesem alten Sprichwort wird in Rio de Janeiro die Arbeitsweise der brasilianischen Militärpolizei beschrieben. Die Eskalation der Gewalt bei den jüngsten Protesten gegen Fahrpreiserhöhungen in Rio de Janeiro am Donnerstagabend (05.02.2014) hat die Debatte über Polizeiwillkür und öffentliche Sicherheit in Brasilien erneut entfacht.
Bei der jüngsten Kundgebung in Rio griff die Polizei besonders hart durch. 28 der insgesamt rund 600 Demonstranten wurden verhaftet. Sieben Personen wurden verletzt. Ein Kameramann des brasilianischen TV-Senders "Bandeirantes" liegt mit schweren Schädelverletzungen im Krankenhaus - verursacht durch einen Feuerwerkskörper, der von einem Demonstranten gezündet worden war.
Auch DW-Mitarbeiter Philipp Barth aus Rio de Janeiro wurde während der Proteste Opfer der Militärpolizei. "Ich habe versucht, Bilder zu machen. Aus dem Nichts kam plötzlich die Polizei", erklärte er im Telefoninterview. "Mit einem gezielten Schlag hat mir einer der Polizisten die Kamera aus der Hand geschlagen. Ich habe dann noch versucht, die Einzelteile aufzusammeln, habe einen Schlag in meinen Bauch bekommen und einen Tritt hinterher".
Panik bei der Polizei
Philipp Barth ist sich sicher: "Die Polizei hat wirklich absolut überreagiert". Die gezielte Gewalt gegenüber Demonstranten sei ein Zeichen dafür, dass die Polizei ihrer Ausbildung noch von ihrer Mentalität her ausreichend auf Protestkundgebungen vorbereitet sei, meint Barth. Es herrsche eine gewisse Panik, dass Brasilien bei der bevorstehenden WM eventuell in einem schlechten Licht erscheinen könne.
Barths bittere Erfahrungen decken sich mit den Einschätzungen brasilianischer Sicherheitsexperten. "Die brasilianische Militärpolizei diente immer der Unterdrückung armer Bevölkerungsschichten und nicht in erster Linie dem Erhalt der öffentlichen Ordnung und dem Schutz von demokratischen Bürgerrechten", sagt der Soziologe Pedro Rodolfo Bodê de Moraes von der Bundesuniversität Paraná in Curitiba.
Nach Ansicht des Soziologen, der auch Mitglied in der Kommission für Sicherheitsverwahrung bei der brasilianischen Rechtsanwaltsvereinigung OAB ist, verhalten sich die Ordnungshüter vielfach noch immer wie die Militärpolizei während der brasilianischen Militärdiktatur von 1964 bis 1985.
Willkürliche Festnahmen
Die brasilianische Militärpolizei ist für ihre Brutalität bekannt. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in ihrem Jahresbericht von 2013 kamen bei Gefechten mit der Polizei im Bundesstaat Rio de Janeiro allein in der ersten Jahreshälfte 214 Menschen ums Leben. Im Bundesstaat São Paulo waren es 251.
Aufgrund von Polizeiwillkür und Gewalt eskalierten die Massenproteste im Juni 2013 während des Confed Cups. Die Protestbewegung bekam immer mehr Zulauf, weil die Polizisten Tränengas und Wasserwerfer gegen mehrheitlich friedliche Demonstranten einsetzten.
Unzureichende Qualifikation
"Die Polizei hat aus den Fehlern während der Massenproteste 2013 nichts gelernt, das hat man am Donnerstag gesehen", meint Tião Santos von der Nichtregierungsorganisation "Viva Rio", die in Rios Armenvierteln soziale Projekte betreibt. Die mangelnde Vorbereitung im Umgang mit gewaltbereiten Demonstranten mache den Polizisten zunehmend selbst zu schaffen.
Eine landesweite Umfrage unter 4.500 Militärpolizisten der Universität "Fundacão Getúlio Vargas" aus Rio de Janeiro bestätigt dies. Demnach gaben 64 Prozent der Befragten an, auch sieben Monate nach dem Confed Cup keine Orientierung oder adäquate Schulung im Umgang mit Demonstranten und gewaltbereiten Gruppen bekommen zu haben.
"Über 20 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur hat sich die brasilianische Gesellschaft sehr stark verändert, aber bei der Militärpolizei gab es überhaupt keine strukturellen Veränderungen", resümiert Soziologieprofessor Pedro Rodolfo Bodê. Es sei daher richtig, dass die sozialen Bewegungen und große Teile der brasilianischen Gesellschaft sich gegen diese Gewalt wehrten.
Auch wenn die Polizei am Pranger steht - Landtagsabgeordnete Adriano Diogo rechnet nicht damit, dass sich ihr Verhalten in absehbarer Zeit ändert. "Eine Debatte über demokratische Reformen der Polizei gibt es in Brasilien nicht", sagt der Parlamentarier, der für die brasilianische Arbeiterpartei PT im Landtag sitzt und zugleich Vorsitzender der Wahrheitskommission ist, die sich um die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur bemüht. Die Bevölkerung erwarte vielmehr von der Polizei, dass sie bei Chaos hart durchgreife.