Roma in Marseille
10. Dezember 2012Ein Industriegebiet im Südosten von Marseille. Hinter einem undurchsichtigen Plastikzaun hat der Roma Ciprian Radü vor zwei Monaten seine Zelte aufgeschlagen. Auf dem brachliegenden Gelände soll demnächst eine mehrstöckige Wohnsiedlung entstehen. "Das ist das Beste, was wir je hatten", erklärt der schlanke Mann mit den tiefen Augenringen und dem akkurat zurechtgestutzten Schnäuzer. Ciprian zeigt auf ein weitläufiges Gelände mit Oliven- und Feigenbäumen. "Wir sind hier versteckt. Die Franzosen wohnen weiter oben, man sieht uns nicht. Wir stören hier niemanden und wir machen keinen Krach."
Die Familie des 30-Jährigen - drei Kinder, die Mutter und eine Oma - wohnt in drei Zelten. In dem Größten steht ein gepolstertes Sofa auf einem roten Samtteppich. Direkt daneben ist der Schlafplatz von Ciprian, seiner Frau und ihrem einjährigen Baby. Es ist eng hier. Rund um das Sofa sind Plastiktüten mit all ihrem Hab und Gut ordentlich gestapelt. In der Mitte der Zelte haben sie eine Küche improvisiert, mit Tisch, Küchenschränken und Gasherd. Alles Sachen, die der Familienvater aus dem Müll gesammelt hat.
Ein Leben immer auf der Flucht
Ein Stückchen weiter haben sich vier Romafamilien eingerichtet, die Ciprian aus seinem Heimatdorf in Rumänien kennt. In ihrem Lager haben sie keinen Stromanschluss. Wasser zapfen sie von einem nahe gelegenen Hydranten ab.
"Derjenige, der auf dieses Gelände aufpasst, meint, dass wir hier noch sechs Monate bleiben können, bis gebaut wird", erklärt der Roma. Und das ist viel wert. Denn seitdem Ciprian mit seiner Frau vor fünf Jahren nach Marseille gekommen ist, musste er alle drei Monate eine neue Bleibe suchen. Immer wieder mussten sie ihr Lager räumen, weil die Stadt oder der Eigentümer des besetzten Geländes erfolgreich klagten. Auch jetzt, wo der Platz erstmal sicher scheint, graut dem Familienvater schon vor dem Winter in den Zelten.
Ciprian erzählt, dass er alles versucht hat, um eine Wohnung zu mieten. Aber alle würden immer nach Papieren fragen, wie einer Gehaltsabrechnung: "Und da ich diese ganzen Sachen nicht bekommen kann, muss ich in einem Lager wohnen." An solchen bürokratischen Hürden ist Ciprian schon oft gescheitert. Dabei hat er nach seiner Ankunft in Frankreich eine Ausbildung als Landschaftsgärtner absolviert. Er war der einzige Roma unter 21 Franzosen. Nach seiner Ausbildung wollte ihn sogar eine Gärtnerei einstellen, unter einer Bedingung: "Der Chef sagte: Wenn Sie eine längere Aufenthaltsgenehmigung als drei Monate haben, können Sie hier morgen anfangen. Die Präfektur konnte mir diese aber nicht geben und ich habe niemanden gefunden, der mich für nur drei Monate einstellen wollte. Da liegt das Problem für uns Roma", bedauert Ciprian.
Ausnahmeregelungen für die Bürger neuer EU-Staaten
Um in Frankreich arbeiten zu können, brauchen die Bürger aus Rumänen und Bulgarien - die meisten Roma kommen aus diesen Ländern - eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Und das obwohl sie EU-Bürger sind. Denn für diese beiden Staaten, die vor fünf Jahren der EU beigetreten sind, gelten sieben Jahre lang Ausnahmeregelungen. Das bedeutet auch, dass den Roma nicht alle Berufe offen stehen und der Arbeitgeber einen langwierigen Antrag stellen muss, um einen Roma zu beschäftigen.
So hält sich Ciprian mit dem Verkauf von Altmetall über Wasser. Fährt mit seinem zerbeulten Transporter jeden Tag von morgens früh bis abends spät die Straßen von Marseille ab und sammelt alles ein, was sich verkaufen lässt. Wenn die Sonne untergegangen ist, sitzen die Romafamilien oft im Dunkeln zusammen und beratschlagen, wie es weitergehen soll. In einer Sache sind sich alle einig: "Die Lebensbedingungen in Rumänien sind für die Kinder nicht die gleichen wie hier", sagt die Mutter einer 6-köpfigen Familie. "Hier können wir den Kindern ein besseres Leben ermöglichen."
Besser Chancen in Frankreich
In seinem Heimatdorf gehörte Ciprian zu den Ärmsten. Auch dort musste er schwarz arbeiten, auf dem Bau, und konnte nicht genug Geld für seine Familie verdienen.
Zwar bekommt er auch in Frankreich nicht immer genug zusammen, um einkaufen gehen zu können, doch hier gibt es für den Familienvater mehr Chancen und Unterstützung. Er hält engen Kontakt zu Romavereinen und hat fast immer einen Plan B, um über die Runden zu kommen. "In den Mülleimern der Läden finden wir Lebensmittel, die noch nicht abgelaufen sind. Und manchmal sage ich mir, dass man in Rumänien nicht die Sachen kaufen kann, die hier weggeschmissen werden." So wie zum Beispiel Obst und Gemüse, die sich die Familie in Rumänien nicht leisten könnte.
Während Ciprians Kinder unbekümmert mit einer Schaukel spielen, die sie aus Schnüren und einem Stuhl gebastelt haben, überlegt der Roma, wie er genug Geld für ein Haus in Rumänien zusammenbekommt. Falls er einmal in seine Heimat zurückkehren muss. Weil man doch nie wisse, was in Frankreich oder Europa eines Tages passiere. "Für uns ist das Leben schwer", seufzt Ciprian. "Aber ich habe keine Wahl. Wenn man langsam aufsteigen möchte, muss man warten. Weil eines Tages werden sich die Gesetze ändern."
Im Jahr 2014 muss Frankreich die Übergangsregelungen für Rumänen und Bulgaren aufheben. Und dann gelten für die Roma aus diesen Ländern die gleichen Rechte wie für alle anderen Europäer. Ciprian hofft, dass sich dann sein Traum erfüllt: "Eines Tages möchte ich mit meiner Familie wie alle Franzosen wohnen. Denn für mich fühlt es sich mittlerweile wie mein Land an."