Ron Haviv und die "Macht der Fotografie"
1. Juli 2023Während Sie diesen Artikel lesen, werden zeitgleich etwa zehn Millionen Fotos gemacht. Die meisten werden mit Smartphones aufgenommen, in der Annahme, man müsse sein Leben ständig dokumentieren. Im Gegensatz dazu hat der preisgekrönte US-amerikanische Fotojournalist Ron Haviv mit seinen Bildern hauptsächlich Konflikte dokumentiert. Er hat mehr als 25 Kriege fotografisch festgehalten, darunter die US-geführte Invasion im Irak 1991, die Jugoslawienkriege, kämpferische Auseinandersetzungen in Afghanistan, Panama, Haiti und jüngst auch den gegen die Ukraine geführten russischen Angriffskrieg.
Die Bilder des 1965 Geborenen regen zum Nachdenken an, und schärfen das Bewusstsein für die Schrecken von Krieg und Gewalt. Dabei war das anfangs gar nicht Havivs Intention: "Ich würde nicht sagen, dass ich es mir ausgesucht hätte", sagte er der DW im Juni auf dem Global Media Forum in Bonn. "Mein erster Auslandseinsatz war in Mittelamerika, um über die Wahlen in Panama zu berichten, die in Gewalt ausarteten." Dieser Einsatz änderte alles.
"Ein Foto, das ich damals gemacht hatte, wurde sehr bekannt. Sieben Monate danach marschierten die USA in Panama ein. Und der damalige US-Präsident nutzte das Foto als Rechtfertigung für die Invasion."
Sensibilisierung und Aufklärung
Haviv erkannte in diesem Moment, dass "vor allem meine Fotografien aus Konfliktregionen eine sehr ernsthafte Rolle im Dialog, im Schaffen von Bewusstsein und für die Aufklärung spielen können."
So wurde sein Interesse an historischen Ereignissen geweckt, etwa am Fall der Berliner Mauer oder an der Freilassung Nelson Mandelas 1990. Aber es dauerte nicht lange, bis es den Fotografen wieder in Konfliktgebiete zog, darunter in den nicht enden wollenden Krieg im Irak.
Eine wichtige Lektion für Haviv, und zwar nicht nur in Bezug auf Fototechnik: "Es muss zwingend jemanden geben, der diese Geschichten erzählt, damit Verantwortliche sowohl für ihr Handeln als auch für ihr Nichthandeln zur Rechenschaft gezogen werden können", sagt der Mitbegründer der Fotoagentur VII, der mit UNICEF, Ärzte ohne Grenzen und dem Internationalen Roten Kreuz zusammenarbeitet.
Fotografie wird zum Beweismittel
"Während meiner Laufbahn habe ich drei Völkermorde dokumentiert - Ruanda, Bosnien und Darfur." Die Bedeutung, die seiner Profession dabei zukommt, erklärt er so: "Die Fotografie ist nicht mehr nur Journalismus, sie ist zum Beweismittel geworden. Fotografie kann einen Krieg nicht aufhalten. Fotografie kann keinen Krieg auslösen. Aber sie kann eine sehr wichtige Rolle bei der Verbreitung von Informationen spielen und somit zur Entscheidungsfindung beitragen."
Im Jahr 2015 nahm die türkische Journalistin Nilüfer Demir während der Flüchtlingskrise ein Bild auf, das weltweites Entsetzen auslöste. Europäischen Staats- und Regierungschefs sprachen von einer "menschlichen Katastrophe". Das Foto zeigte Alan Kurdi, ein zweijähriges syrisches Flüchtlingskind, das im Mittelmeer ertrunken und an der türkischen Küste mit dem Gesicht nach unten im Sand aufgefunden worden war. Die Aufnahme zog Fragen nach moralischen Grenzen nach sich: Dürfen solche Fotografien gemacht werden?
Die Macht der Fotografie
Für Haviv stellt sich diese Frage nicht. "Ich glaube an die Macht der Fotografie", sagt er. "Ich bin der Meinung, dass das Allgemeinwohl hier überwiegt, und dass die Geschichte wichtig genug ist, um gesehen zu werden. Selbst wenn jemand weint oder leidet, muss das Foto gemacht werden, um der Welt zu zeigen, was passiert."
Dringt der Fotograf damit aber nicht zu sehr in die Privatsphäre ein? "Ich mache das seit mehr als 30 Jahren", sagt Ron Haviv. "Wenn Menschen aufgrund von Krieg oder Hungersnot versterben und ich bei der Beerdigung dabei bin, hat mir bisher noch nie jemand gesagt: 'Nein, machen Sie keine Fotos.'"
Stattdessen bitten die Menschen darum, dass er die Notlage dokumentiere: "Einmal hat mich ein Familienmitglied regelrecht physisch gezerrt und gesagt: 'Fotografieren Sie mein Kind, zeigen sie es der Welt.'"
Keine Konkurrenz zur KI
Derzeit wird jedoch das gesamte Fotografenhandwerk durch künstliche Intelligenz in Frage gestellt. "Was man von Leuten wie mir erwarten kann, ist die Urheberschaft einer Idee", antwortet Ron Haviv auf eine mögliche Konkurrenz durch KI. "Ich erzähle die Tiefe einer Geschichte, besonders jetzt. Damit ist eine Integrität verbunden, dass dies keine KI-Produktion ist, sondern die Realität."
Er fährt fort: "Ich zeige eine wahre Darstellung, so wie ich die Dinge gesehen habe. Und Sie müssen mir vertrauen, entweder weil ich eine angesehene Person bin, oder weil ich im Auftrag des 'The Economist' unterwegs bin und Sie 'The Economist' vertrauen und deshalb glauben, was Sie sehen." Da KI allerdings in der Lage ist, Bilder zu manipulieren, "bewegen wir uns mehr und mehr in eine Richtung, in der es sehr schwierig sein wird, wirklich zu glauben, was man sieht", so Haviv.
Aber es gebe auch eine Chance, vor solch dystopischen Szenarien verschont zu bleiben: "In meiner Welt gibt es keinen Platz für KI. Ich bin kein Kunstfotograf. Ich bin kein Porträtfotograf. Mein Ziel ist es, KI draußen zu halten - in Übereinkommen mit den Publikationen, den Kameraherstellern und vor allem mit den Lesern."
Er beschreibt eine neue, vom US-amerikanischen Softwareunternehmen Adobe geleitete Initiative namens "Content Authenticity Initiative", bei der Fotodateien mit "einem blauen Häkchen ausgestattet werden sollen, die bestätigen, dass dieses Foto nicht manipuliert wurde."
Haviv ist seit mehr als 30 Jahren in der Branche tätig. Auch wenn sich vieles seitdem nicht verändert hat, so haben die Manipulationsmöglichkeiten durch neue Technologien deutlich zugenommen.
Das Interview mit Ron Haviv führte Manasi Gopalakrishnan. Der Artikel wurde aus dem Englischen von Nadine Wojcik adaptiert.