Eindrücke vom Filmfestival Cannes
23. Mai 2015Los geht's also im Grand Palais du Festival nach dem obligatorischen Akkreditierungsprozedere. Diesmal ziert meine rosafarbene Akkreditierung zusätzlich ein kleiner gelber Punkt. Aufstieg in die zweithöchste Kategorie im farbigen Klassensystem für die Journalisten in Cannes. Das reicht von Gelb über Blau bis Weiß. Besitzer der "Carte Blanche" genießen fast Star-Status, denn sie kennen keine Wartezeiten und bekommen sogar im Saal Plätze freigehalten. Für mich heißt es ab sofort: nur noch 30 Minuten Schlange stehen, nicht mehr eine Stunde oder länger.
Gleich im ersten Film Begegnung mit Regisseurin Emmanuelle Bercot, diesmal als Schauspielerin im offiziellen Wettbewerbsbeitrag "Mon Roi". Sie spielt eine Frau, die während des Aufenthaltes in einem Rehabilitationszentrum nach einem Skiunfall über ihre gescheiterte Beziehung nachdenkt: Ein schmerzhafter Heilungsprozess, in Rückblenden erzählt und zugleich eine Tour de Force durch die Höhen und Tiefen menschlicher Liebesbeziehungen, auf die Regisseurin Meiwenn ihre beiden Darsteller Emmanuelle Bercot und Vincent Cassel schickt.
Subtiler in Dialogen und szenischer Gestaltung, doch emotional nicht weniger bewegend, nimmt sich der Norweger Joachim Trier das Thema Verlust und Trauer vor. "Louder than Bombs" heißt sein erster englischsprachig produzierter Film, in dem Isabelle Huppert eine Kriegsfotografin verkörpert. Nach jahrelangem Pendeln zwischen Kriegseinsatz und Familienleben beschließt sie, sich zurückzuziehen. Als sie kurz darauf bei einem Autounfall stirbt, an dem sie nicht ganz unschuldig zu sein scheint, löst dies eine Familienkrise aus.
Deutscher Film? Fehlanzeige!
Und der deutsche Film in Cannes? Fehlanzeige auch dieses Jahr! Mit "Palermo Shooting" von Wim Wenders schaffte es 2008 zum letzten Mal ein deutscher Film in den Wettbewerb. Seither ein paar vereinzelte Auftritte jüngerer Regisseure in Nebenreihen. Und es sieht nicht so aus, als ob den sieben schlechten Jahren sieben bessere folgen würden. Mutig stellt sich German Films, das Auslandsmarketing der deutschen Filmbranche, diesem traurigen Befund, organisiert Marktuntersuchungen und präsentiert eine Kurzfilmreihe unter dem Titel "Next Generation/Short Tiger 2015".
German Films richtet auch den traditionellen Empfang im luxuriösen Ambiente am Privatstrand des Majestic Hotels aus. Die versammelte deutsche Filmbranche aus Förderern, Produzenten, Verleihern und Festivalmachern demonstriert Geschlossenheit. Aber kaum einen Schauspieler oder Regisseur von Rang kann ich an diesem Abend ausmachen. Nur kurz taucht Volker Schlöndorff auf, die Lichtgestalt des deutschen Autorenkinos. In Cannes 1979 mit einer Goldenen Palme für "Die Blechtrommel" ausgezeichnet, wird er wie Rainer Werner Fassbinder von den französischen Cineasten bis heute vergöttert.
Künstlerischer Lichtblick und kreativer Hoffnungsträger des Abends ist Christian Friedel. Mit seiner Band "Woods of Birnam" gibt er ein kleines, feines Konzert und eine beeindruckende Kostprobe seines sängerischen Könnens. Die beiden Filme, mit denen er bereits in Cannes eingeladen war, als Dorflehrer in "Das weiße Band" (Goldene Palme 2009) und als Heinrich von Kleist in "Amour fou" (2004) wurden zwar mit deutschem Geld hergestellt, aber wegen der Herkunft der Regisseure an der Croisette als österreichische Produktionen wahrgenommen.
Deutscher Film - besser als sein Ruf?
Vielleicht hat der deutsche Film auf dem internationalen Festivalparkett ja nicht nur ein Wahrnehmungs-, sondern auch ein Vermittlungsproblem? Dass deutsche Filme erfolgreich sein können und es auch sind, zeigen schon die Zahlen. Von solchen macht die angereiste Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrer Ansprache auch eindrucksvollen Gebrauch: 292 Auszeichnungen für deutsche Filme, 27 Prozent Marktanteil im eigenen Land und Besucherrekorde sogar in Frankreich mit aktuell 92.500 Zuschauern für das Nachkriegsdrama "Labyrinth des Schweigens".
Stärkung eigener Handschriften
Im Pressegespräch am nächsten Morgen wird dann doch klar, dass die Abwesenheit des deutschen Films im Festivalprogramm eigentlich die Bestätigung eines zerfaserten Förderverhaltens ist, bei dem Partikularinteressen der Länder wie Regionaleffekte und Quotendruck der koproduzierenden TV-Anstalten zu einem immer größeren Einheitsbrei führen.
Die Staatsministerin verspricht, die "Stärkung ästhetischer Positionen und eigener Handschriften zu unterstützen und junge Talente und ihre Erstlingswerke zu fördern." Und wirklich: Denn genau immer dann wurden Regisseure wie Andres Dresen, Fatih Akin oder Hans Weingartner auch prompt nach Cannes eingeladen, wenn sie ihre filmischen Ideen frei und kreativ umsetzten konnten.
Palmenkandidat "Carol"
Entscheidend ist freilich das, was auf der Leinwand überzeugt. Dort erobert Cate Blanchett Kritiker und Festivalpublikum im Sturm als "Carol“ in Todd Haynes' gleichnamiger filmischer Adaption des Romans von Paricia Highsmith. Blanchett spielt eine von Noblesse und Melancholie umwehte Unternehmergattin, die im New York der 1950er Jahre eine Liebesaffäre mit einer Verkäuferin beginnt und auslebt - damals ein Verbrechen. Auf der Pressekonferenz betonen Cate Blanchett und Drehbuchautorin Phyllis Nagy, dass Homosexualität auch heute noch in über 70 Ländern der Welt illegal ist. Unter Kritikern gilt "Carol" übrigens als aussichtsreicher Palmenkandidat.
"Sicario" - mein Favorit
Auch der Francokanadier Denis Villeneuve präsentiert in seinem Film "Sicario" eine Frau als Hauptdarstellerin, obwohl die Rolle doch für einen Mann umgeschrieben werden sollte. Aber Emily Blunt macht, wie sie den Journalisten lächelnd erklärt, nicht nur in High Heels auf dem Roten Teppich einen gute Figur, sondern auch als FBI Agentin im Drogenkampf an der Mexikanischen Grenze an der Seite ihrer Filmpartner Josh Brolin und Benicio Del Toro. "Sicario" ist ein großartiger Thriller und intensiver Schauspielerfilm - mein Favorit.