RUHRTRIENNALE 2010
24. August 2010Im arabischen Sprachraum ist die Geschichte von Leila und Madschnun populärer als die von Romeo und Julia bei uns. Obwohl sie von Liebenden handelt, die voneinander getrennt werden und sich nur einmal, nach langer Zeit, wieder sehen. Madschnun gibt nicht auf, er liebt und leidet immer mehr, steigert sich in seine Gefühle hinein, fanatisch und romantisch. Es gibt diesen Stoff in den unterschiedlichsten Fassungen und Sprachen: auf Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Aserbaidschanisch und vielen mehr. Am bekanntesten ist die Versdichtung des persischen Poeten Nizāmi, die im 12. Jahrhundert entstanden ist.
Auflösung des eigenen Ichs
Madschnun irrt durch die Welt. Seine Gedanken sind bei der fernen Geliebten, die er nicht wieder sehen darf. Er gibt sich ganz seinen Gefühlen hin, bis sich sein eigenes Ich auflöst. Madschnuns Ideal ist es, dass aus ihm die pure Liebe spricht, kein Individuum mehr. Deshalb hat er auch seinen ursprünglichen Namen abgelegt. Als er sich als Kind in die ebenso junge Leila verliebte, war er ein Königssohn, zum Herrschen bestimmt. Doch die Erwachsenen halten die enge Bindung der beiden für krankhaft und trennen sie. Nun nennt sich der Prinz Madschnun, was übersetzt "der Verrückte" oder "der Besessene" bedeutet.
Blockflöte des Wahnsinns
Willy Decker, der Intendant der RUHRTRIENNALE, hatte die Idee, aus dem persischen Versepos "Leila und Madschnun" ein Musiktheaterstück zu machen, eine Kombination aus Oper und Schauspiel. Die Musik hat Samir Odeh-Tamimi geschrieben, ein palästinensisch-israelischer Komponist, der schon viele Jahre in Deutschland wohnt. Die Blockflöte ist das Instrument des Wahnsinns. Die Musik steckt voller Dissonanzen und greller Glissandi, Odeh-Tamimi sieht sich in der Tradition der europäischen Avantgarde. Nur manchmal hört man - zum Beispiel in einem solistisch besetzten Akkordeon – Anklänge an ethnische Musik.
Hagen Matzeit singt Madschnun, alle anderen Rollen sind mit Schauspielern besetzt. Die Partitur verlangt ständige Wechsel zwischen den Höhen eines Countertenors und Baritontiefen. Es ist eine fast durchweg laute, schrille, nervende Musik, die nur wenige Zwischentöne kennt. Von der Liebe erzählt sie kaum, aber viel von Gedankenverwirrung und vom Krieg. Denn Textdichter Albert Ostermaier hat sich eine heutige Rahmenhandlung ausgedacht. Es ist Krieg, ein Soldat, der das Buch, bei sich trägt, wird schwer verwundet. Die Geschichte von "Leila und Madschnun" ist sein Fiebertraum.
Pathos und große Bilder
Ostermaier versucht, die Gefühlsintensität der Vorlage des persischen Dichters Nizāmi zu erhalten. Dabei rutscht er allerdings häufig ins plakative Pathos, manche Szene gleitet in den unfreiwiliigen Humor. Die Bilder allerdings, die Regisseur Willy Decker und Bühnenbildner Wolfgang Gussmann finden, sind grandios. Die Bühne in der Bochumer Jahrhunderthalle ist voller Sand. Darauf steht ein riesiger Militärtruck, Soldaten rennen, schießen und sterben. Maschinengewehrsalven und Granatenexplosionen krachen aus den Lautsprechern. Dann hebt sich der Laster wie von Geisterhand und schwebt unter die Decke. Von den Reifen rieselt Sand aus großer Höhe herab. Das sind magische, überwältigende Bilder. In der arabischen Welt gilt Madschnun als Held wegen seiner Bereitschaft, gewaltiges Leid auf sich zu nehmen.
Wege zur Verständigung
Die Angst vor Extremismus und die Suche nach den Wurzeln von Terrorismus und Krieg ist ein großes Thema der RUHRTRIENNALE. Aber sie zeigt auch die andere Seite der islamischen Kultur, den Reichtum von Poesie und Literatur, die rauschartige Faszination der Sufi-Musik und tanzender Derwische. Auch wenn der Start kein glücklicher war, hat sich die RUHRTRIENNALE ein spannendes und vielschichtiges Thema ausgesucht. Mit den Mitteln der Kunst sucht das Festival Wege zur Verständigung.
Autor: Stefan Keim
Redaktion: Conny Paul