Wende in Osteuropa Rumänien
27. November 2009Bukarest am 15. Juni 1990: Rumäniens erster postkommunistischer Staatspräsident Ion Iliescu bedankt sich bei Bergarbeitern für ihre "effiziente Anwesenheit" und ihr "hohe bürgerliche Disziplin". Am Tag zuvor waren 10.000 Kumpel aus dem westrumänischen Schiltal in die Hauptstadt gekommen und hatten auf Geheiß Iliescus eine pogromartige Prügelorgie unter antikommunistischen Demonstranten angezettelt, geleitet von Polizei und Geheimdienstoffizieren. Die Bilanz: sechs Tote, hunderte Schwerverletzte.
Von der Diktatur zum reformfeindlichen Regime
Zu diesem Zeitpunkt ist ein halbes Jahr seit dem Sturz des Diktators Ceausescu vergangen. Die Gewaltorgie auf dem Bukarester Universitätsplatz ist der traurige Höhepunkt der chaotischen Monate - und zugleich das endgültige Startsignal für den Sonderweg Rumäniens in Osteuropa: den Weg hin zu einem reformfeindlichen Regime mit nationalistischen, autoritären Zügen, einem Regime, in dem es jahrelang nur wenige isolierte zivilgesellschaftliche Ansätze gibt.
Der starke Mann jener Tage, Ion Iliescu, war einst Zögling Ceausescus. Später fiel er bei diesem in Ungnade, wurde Reformkommunist und nach 1989 dreimal Staatspräsident Rumäniens. Auf kritische Fragen, wie etwa der zum Bergarbeiterüberfall auf den Universitätsplatz, reagiert der 79-Jährige auch heute noch wütend und belehrend: "Es heißt immer, Iliescu hat die Bergarbeiter gerufen. Wie denn? Sie sind einfach gekommen! Sie sind die solidarischste Kategorie von Arbeitern. Aus diesem Geist der Solidarität heraus haben sie die Staatsinstitutionen vor anarchischen Elementen verteidigt“. Erst danach habe er sie zu sich gerufen, um sich für den Akt der Solidarität zu bedanken. “Nur so konnte ich sie überzeugen, die Hauptstadt zu verlassen. Anders war es nicht möglich", sagt er weiter.
Allein er sei der Garant für Stabilität und Demokratie im Land gewesen, ereifert sich Iliescu, und das bereits seit dem 22. Dezember 1989 - dem Tag, an dem die Diktatur in Rumänien endete und an dem er, Iliescu, zum ersten Mal im Staatsfernsehen auftrat. "Im Gebäude des Fernsehens herrschte allgemeine Orientierungslosigkeit, nichts kam zustande", sagt Iliescu. "Alle möglichen Figuren trieben sich da herum. Mein Erscheinen gab den Ereignissen Sinn." Seiner Meinung nach sei eine gewisse personelle Kontinuität unvermeidlich und das sei in der Geschichte auch schon immer so gewesen, ist er überzeugt: "Hätten wir etwa Massenexekutionen aller Würdenträger des früheren Regimes veranstalten sollen? Wir wollten Demokratie und zwar ohne Schuldzuweisungen."
Noch ein weiter Weg
Smaranda Enache ist Menschenrechtsaktivistin aus der siebenbürgischen Stadt Tirgu Mures. Die 59-Jährige war Ende 1989 Mitbegründerin der "Liga Pro Europa", eine der ersten Nicht-Regierungsorganisationen in Rumänien nach dem Sturz Ceausescus. Bald darauf wurde Smaranda Enache von rumänischen Nationalisten als Verräterin und Staatsfeindin Nummer eins ausgerufen. Im März 1990 hatten Ultranationalisten zusammen mit ehemaligen Sicherheits-Polizisten, der "Securitate-Offizieren" die ethnischen Spannungen in Tirgu Mures angeheizt. Den Ort bewohnten je zur Hälfte Rumänen und Ungarn. Es kam zu schweren gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern. Rumänien stand damals am Rand eines ethnischen Bürgerkrieges.
Smaranda Enache war eine der wenigen Rumänen in der Stadt, die sich gegen den nationalistischen Wahn wandten, zur Versöhnung aufriefen und mehr Rechte für Minderheiten forderten. Heute, nach zwanzig Jahren, betrachtet sie die Entwicklung Rumäniens mit gemischten Gefühlen. Rumänien sei zwar EU-Mitglied, und es gebe Bürgerrechte, aber: "Es ist Rumänien nicht gelungen, Solidarität und eine Bürgernation aufzubauen. Wir sind immer noch eine Nation, in der bestimmte Gruppen an den Rand gedrängt werden und deren Radikalisierung bereitet mir Sorge."
Auch die Aktivisten der Zivilgesellschaft seien dafür verantwortlich, dass Rumänien noch keine Bürgergesellschaft sei, fügt Smaranda Enache selbstkritisch hinzu: "Wir waren damit beschäftigt, die Eliten nach dem Aufklärungsmodell des 18. Jahrhunderts zur Demokratie zu konvertieren. Für die einfachen Leute haben wir kein Ohr gehabt." Und plötzlich entdecke Rumänien, dass die Aufklärung im Widerspruch zu vielen Erfahrungen der Leute stehe, denn die würden zum größten Teil noch im Mittelalter leben. "In gewisser Hinsicht ähneln wir mehr der Dritten Welt als einem Land der Europäischen Union", meint Enache.
Autor: Keno Verseck
Redaktion: Heidi Engels