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Russisch-orthodox - aber nicht immer gläubig

Yulia Vishnevetskaya / Markian Ostaptschuk12. April 2015

Die Mehrheit der Russen gibt an, christlich-orthodox zu sein. Doch nur eine Minderheit praktiziert den Glauben. Wie die Russen ihre orthodoxe Identität begreifen, hat auch mit nicht-religiösen Faktoren zu tun.

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Russische Flagge neben Kreml-Kirche (Foto: Bernd Settnik, dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Fast drei Viertel der russischen Bevölkerung bezeichnet sich nach Angaben der unabhängigen russischen Stiftung "Gesellschaftliche Meinung" (FOM) als orthodox. Aber nur vier Prozent der Russen gehen regelmäßig in die Kirche und empfangen die Sakramente.

Das bestätigen auch die Statistiken des russischen Innenministeriums. Seine Mitarbeiter wachen an den höchsten religiösen Feiertagen über die öffentliche Ordnung rund um große Kirchengebäude. So auch an diesem Sonntag, an dem nach dem julianischen Kalender das russich-orthodoxe Osterfest gefeiert wird. Die Polizei schätzt, dass auch an einem Feiertag wie diesen nur zwei bis vier Prozent der Russen Kirchen aufsuchen.

Ersatz für nationale Identität

Die religiösen Überzeugungen der russischen Gläubigen sind nicht einfach zu erklären. Nach Umfragen des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts "Levada-Zentrum" betrachten sich 60 Prozent der Orthodoxen als religiös. Doch nur 40 Prozent glauben an die Existenz Gottes. 30 Prozent sind sogar überzeugt, dass es Gott gar nicht gibt.

Natalia Sorkaja vom "Levada-Zentrum" meint, lange Zeit habe eine "orthodoxe Identität" als Ersatz für eine "fehlende positive russische nationale Identität" gedient. "Wenn man heute sagt, man sei orthodox, dann bezieht sich das selten auf Religiosität", sagt sie im Gespräch mit der DW. Nicht einmal zu Ostern beteilige sich die Mehrheit der Kirchenbesucher aktiv an der Liturgie. Meist sei das Wissen der Menschen über den orthodoxen christlichen Glauben sehr vage. Die Soziologin ist davon überzeugt, dass in Russland immer noch Überreste eines alten Heidentums präsent sind: der Glaube an Rituale und Magie. "Alle haben Ikonen im Auto. Ikonen sind überall, auch in den Krankenhäusern. Dieses Massenphänomen ist aber kein Zeichen des religiösen Glaubens", meint Sorkaja. Eher könne man von einer Art "Glaubens-Brei" sprechen.

Außerdem würde die Kirche ihren Mitgliedern zu wenig Aufmerksamkeit widmen. "Die russisch-orthodoxe Kirche ist erstaunlich archaisch. Sie kommuniziert mit den Gläubigen in einer für sie unverständlichen Sprache", sagt die Expertin. "Dabei gibt es in der Gesellschaft den Wunsch nach einer Vermittlung höherer Werte. Aber die Menschen können dieses Bedürfnis nicht über die Kirche stillen."

Orthodoxe Ostermesse in Moskau (Foto: EPA/MAXIM SHIPENKOV, dpa)
Orthodoxe Ostermesse in MoskauBild: picture-alliance/dpa

Enttäuscht von der Kirche

Die russische Philologin Waleria gibt zu, ihren Glauben nicht allzu ernst zu nehmen. "Ich gehe sehr selten in die Kirche. Nur manchmal zu Weihnachten oder Ostern", sagt sie. Wenn es ein aktiveres Gemeindeleben gäbe, würde sie das aber öfter tun: "Ich wünsche mir, dass es in der Kirche irgendwelche Aktivitäten gibt, die Menschen nicht nur spirituell, sondern auch sozial verbinden."

Die Finanzexpertin Anastasia wurde von ihrer Großmutter heimlich getauft, weil ihr Vater überzeugter Atheist war. "Als Kind glaubte ich aufrichtig an Gott und das erfüllte mein Leben mit Sinn", erinnert sie sich. Zur Beichte sei sie aber nur zweimal im Leben gegangen. Das erste Mal sei sehr verletzend gewesen: "Der Priester schimpfte mit mir. Wenn man auf ihn hören würde, wäre im Leben nichts mehr erlaubt, weder Trinken noch Rauchen und auch kein Sex." Heute bezeichnet sich Anastasia nicht mehr als gläubig. "Trotzdem gefällt es mir, eine Kirche aufzusuchen, aber eher aus einem ästhetischen Empfinden heraus." Ihre Tochter habe sie aber taufen lassen: "Ich weiß nicht, warum. Vielleicht ist es ein Automatismus."

"Die Hauptsache ist das Evangelium"

Solche Menschen verurteilt der russische Erzpriester Aleksandr Borisow nicht. "Für manche ist der Glaube der Mittelpunkt ihres Lebens, für andere ist er nur so etwas wie eine Versicherung für alle Fälle", sagt der Geistliche.

Zu den geringen Zahlen der Kirchenbesucher sagt er, dass es für einen Christen wichtiger sei, das Evangelium zu lesen und zu versuchen, im Einklang mit ihm zu leben. "Außerdem kann man sich heute nicht als gebildet betrachten, wenn man nicht das Evangelium gelesen hat. Dann sind unsere Literatur, viele Gemälde, Opern und andere Kunstwerke weitgehend unverständlich", so Borisow. Er bedauert, dass heute viele gut ausgebildete Menschen nie das Evangelium gelesen hätten: "Das ist meiner Meinung nach einfach geistige Faulheit. Es ist doch gar nicht schwer, vier kleine Bücher zu lesen."