Russland ist kein Freund der Europäischen Energiecharta
14. Juli 2006Im Juni 1990 schlug der niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers auf einer Sitzung des Europäischen Rates in Dublin vor, mit den osteuropäischen Staaten enger im Energiebereich zusammenzuarbeiten. Damit meinte der Niederländer in erster Linie die ressourcenreiche, jedoch sich auflösende Sowjetunion. Seine Idee: Die Länder der Europäischen Gemeinschaft (EG) investieren in die osteuropäischen Staaten, die im Gegenzug Westeuropa dauerhaft mit Energie versorgen.
Eine derartige Kooperation sollte beiden Seiten nutzen. Der damalige Ostblock benötigte Investitionen. Westeuropa hingegen strebte die Unabhängigkeit von anderen Energieexporteuren - zum Beispiel der OPEC - an und war deswegen strategisch an einer Diversifizierung der Energielieferanten interessiert. Lubbers Vorschlag fand Anklang: Die Europäische Kommission begann, Anfang 1991 das Konzept einer Europäischen Energiecharta auszuarbeiten.
Von der Idee zum Vertrag
Ein knappes Jahr später wurde die Europäische Energiecharta am 17. Dezember 1991 in Den Haag von 51 Staaten unterzeichnet, und zwar in ihrer vorläufigen unverbindlichen Form einer politischen Erklärung zur Förderung internationaler Zusammenarbeit im Energiebereich. Die Idee der Energiecharta unterstützten neben den EG- und GUS-Staaten zahlreiche asiatische Länder sowie Japan, Kanada und die USA.
Drei Jahre später, am 17. Dezember 1994, unterzeichneten dieselben Staaten - mit Ausnahme von Kanada und den USA - in Lissabon den "Vertrag über die Energiecharta und das Energiechartaprotokoll über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte". Auch Russland unterschrieb den Vertrag, der erst mit der Ratifikation von mindestens 30 Staaten in Kraft treten sollte. Weitere 17 Länder und 10 internationale Organisationen erhielten zudem einen Beobachterstatus.
Vertragsregelungen und Energiecharta-Konferenz
Der Vertrag regelt alle Seiten der internationalen Kooperation im Energiebereich, darunter den Schutz und die Förderung von Investitionen, den Handel mit Energieträgern und -Erzeugnissen nach den Bestimmungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), den ungehinderten Energietransit sowie den Umweltschutz und die Energieeffizienzmaximierung. Die Form der Streitbeilegung ist ebenfalls Bestandteil dieses Vertrags. Mit der Vertragsunterzeichnung wurde die Energiecharta-Konferenz - Entscheidungsträger und leitendes Organ der Energiecharta - ins Leben gerufen.
Im April 1998 erlangte die Europäische Energiecharta nach der 30. Ratifizierung ihre rechtliche Wirkung. Gleichzeitig ergänzte die Energiecharta-Konferenz in Brüssel das Handelsabkommen innerhalb der Charta und passte die veralteten GATT-Handelsbestimmungen denen der WTO an.
Verhandlungen EU-Russland: die unendliche Geschichte
Im Januar 2000 begannen die Verhandlungen über das "Energiechartaprotokoll über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte". Der Energietransit und Wettbewerbseinschränkungen standen dabei im Mittelpunkt. Für Russland und seinen Energiemonopolisten Gasprom ist dies ein heikles Thema, weshalb Moskau den Vertrag bis heute nicht ratifiziert hat. Denn Russland befürchtet, die EU nach der Ratifizierung die Gasprom-Monopolstellung über die russischen Pipelines aufbrechen zu müssen. Bis heute ist der Energieriese alleiniger Herrscher über die Energieadern und der Kreml möchte es dabei belassen. Andererseits: Ohne eine russische Ratifizierung der Energiecharta bleibt Gasprom die Möglichkeit, direkt im europäischen Binnenmarkt als Energieanbieter aufzutreten, versperrt.
Gegen Ende 2002 schien eine Einigung über den Text des Energiechartaprotokolls - auch "Transitprotokoll" genannt - möglich, doch eine endgültige Verständigung misslang. Ein Kompromiss ist bis heute nicht absehbar, zumal der russisch-ukrainische Gasstreit die Diskussion verschärfte.