Solidarität mit verurteiltem Schauspieler
18. September 2019Möglicherweise war er nur zur falschen Zeit am falschen Ort und bekam dreieinhalb Jahre Freiheitsentzug. Das ist die Geschichte des Moskauer Schauspielers Pawel Ustinow, die gerade Teile der russischen Gesellschaft empört und bisher unvorstellbare Allianzen fördert. Nicht nur Schauspielerkollegen, Künstler sowie Kreml-kritische und bisher regierungsloyale Journalisten und Entertainer melden sich in sozialen Medien zu Wort und fordern Ustinows Freilassung. Selbst einige Priester der Russischen Orthodoxen Kirche, Lehrer und sogar Politiker der regierenden Partei "Geeintes Russland" protestieren gegen das aus ihrer Sicht zu harte und unfaire Vorgehen der russischen Justiz. Im Fall Ustinow handele es sich um "äußerste Ungerechtigkeit", schrieb am Mittwoch auf Instagram Andrej Turtschak, Sekretär eines Führungsgremiums der Kreml-Partei.
Es wirkt wie ein Aufstand gegen Justizwillkür, bei dem nicht nur die üblichen liberalen Medien mitmachen, sondern auch politikferne Prominenz. Diana Wischnjowa, Solistin des Mariinski Theaters in St. Petersburg, teilte bei Instagram: "Ich/Wir sind Pawel Ustinow". Der Popsänger Sergej Lazarev, der beim Eurovision-Wettbewerb zweimal dritter wurde, schrieb auf der gleichen Plattform, es handele sich um, ein "schreckliches Urteil" gegen einen Unschuldigen.
Richter ignoriert entlastendes Video
Ein Gericht in Moskau hat den 23-jährigen Ustinow am Montag zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, bei seiner Festnahme am Rande einer nicht genehmigten oppositionellen Protestaktion am 3. August in der Moskauer Innenstadt einem Polizisten die Schulter verrenkt zu haben.
Von Mitte Juli bis Ende August protestierten nahezu jeden Samstag Tausende Bürger gegen den Ausschluss mehrerer oppositioneller Kandidaten von der Wahl zum Moskauer Stadtrat. Es war die größte Protestwelle seit Jahren. Ustinow sagt, er habe an der politischen Aktion gar nicht teilgenommen und sei von der Polizei offenbar willkürlich, ohne sichtbaren Grund festgenommen worden.
Videoaufnahmen der Festnahme, gedreht von Journalisten der Zeitung "Nowaja Gaseta" und des Fernsehsenders "Doschd", zeigen, wie Ustinow auf der Straße steht und auf sein Telefon schaut, während eine Gruppe von Polizisten in schwerer Kampfmontur augenscheinlich gezielt aus der Menschenmenge auf ihn zusteuert, ihn zu Boden wirft und abführt. Der zuständige Richter weigerte sich jedoch, sich diese entlastende Aufnahme anzuschauen.
Priester warnen vor "Einschüchterung"
Die Aufnahme ist eine mögliche Erklärung, warum sich besonders viele mit Ustinow solidarisieren. Dennoch ist ungewöhnlich, dass auch manche Kirchenvertreter für die Einstellung der Verfahren und Aufhebung der Urteile im Zusammenhang mit den Protesten plädieren. Für Aufmerksamkeit sorgt derzeit ein offener Brief von mehr als 40 Priestern der sonst stets Kreml-freundlichen Russischen Orthodoxen Kirche.
Urteile gegen Protestler in Moskau "wirken eher wie Einschüchterung denn als gerechte Entscheidungen", so die Unterzeichner. Einer von ihnen heißt Andrej Kordotschkin von der Maria-Magdalena-Kathedrale in Madrid. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Moskau habe man auf eine Stellungnahme der Kirche gewartet, sagte Kordotschkin in einem DW-Gespräch. "Es geht nicht darum, dass die Kirche sich auf die eine oder die andere Seite einer politischen Kraft stellt, sondern dass sie für die Schwächeren Partei ergreift", so der Priester über seine Motivation.
In der Moskauer Zentrale der Orthodoxen Kirche ist der Brief bereits auf Kritik gestoßen. Ein Sprecher nannte den Appell "eine politische Deklaration" und distanzierte sich davon.
Wie Bürgerproteste russische Justiz unter Druck setzen
In Russland gibt es seit Jahren umstrittene Strafverfahren und Gerichtsurteile, doch eine so breite Solidaritätswelle wie jetzt gab es wohl noch nie. Allerdings weckt sie die Erinnerung an einen prominenten Fall Anfang Juni: Damals wurde in Moskau der Journalist Iwan Golunow festgenommen, der sich mit Enthüllungsberichten für renommierte Medien und zuletzt für das Onlineportal "Meduza" einen Namen gemacht hatte. Der Vorwurf: Drogenhandel. Golunow bestritt das und sagte, die Polizei habe ihm Drogen untergeschoben. Nach Protesten mehrerer einflussreicher Medien, darunter der drei führenden Wirtschaftsblätter, aber auch Straßendemos wurden die Vorwürfe fallen und Golunow frei gelassen. Es war ein sehr ungewöhnlicher Vorgang russischer Justiz, die sonst keinen Rückwärtsgang kennt.
Der Fall Ustinow lenkt die Aufmerksamkeit auch auf andere Strafverfahren im Zusammenhang mit der sommerlichen Protestwelle in Moskau. Bisher sind sieben Menschen zu Haftstrafen von bis zu fünf Jahren verurteilt worden. Es gibt Forderungen, alle Verfahren im Zusammenhang mit jenen Protesten einzustellen. Zumindest im Fall Ustinow gibt es inzwischen Berichte aus Moskau, nach denen das Urteil in den kommenden Tagen von einem anderen Gericht überprüft werden soll.