Russland staunt über seine Fußball-Helden
1. Juli 2018Es ist ein bemerkenswerter Satz: "In Russland haben wir nicht die Tradition, zu träumen", sagt Svetlana. Sie trägt ein russisches Kostüm, weiß-blau-rot gestreift. Es ist ein kleinmütiger, bescheidender Satz vor dem Achtelfinal-Duell der russischen Fußball-Nationalmannschaft gegen die Ballkünstler aus Spanien, Weltmeister von 2010.
Er fängt die Gemütslage vieler Russen ein, aber er passt auch perfekt zur russischen Elf. Der “Sbornaja", wie sie im Volksmund genannt wird, hat vor dem WM-Turnier im eigenen Land niemand etwas zugetraut. Doch als sich die russischen Spieler dort unten auf dem Rasen im Luschniki-Stadion in Moskau in die Zweikämpfe werfen, als die Uhr immer weiter tickt in Richtung Nachspielzeit und Verlängerung, da fangen nicht wenige dann doch an, ein bisschen zu träumen. Sie schütteln freudig die Köpfe, sie können es nicht glauben. Torhüter Igor Akinfejew entschärft ein ums andere Mal einen gefährlichen Torschuss. Sie bangen und zittern. Sie schreien. Kreischanfälle bei jedem verstolperten Konter Russlands.
Ohrenbetäubender Lärm
"Russija, Russija" hallen die Anfeuerungsrufe durchs Luschniki. Ein ganzes Stadion träumt vom Viertelfinale. Und wenn Sitznachbar Leonid zu einem kehligen, herausgepressten “Dawai” ansetzt ("Los, vorwärts"), erinnert schon das allein an ein Donnergrollen. Pfiffe gibt es immer wieder, wenn die Spanier ihr engmaschiges Kombinationsspiel aufziehen - und den Ball nicht hergeben wollen. Was ziemlich häufig der Fall ist. Schon der Abpfiff zum Elfmeterschießen wird wie ein Sieg gefeiert. Und als Igor Akinfejew schließlich den entscheidenden Elfmeter des letzten Schützen Iago Aspas pariert (5:4 n.E.), brandet ein ohrenbetäubender Lärm auf. So laut, dass die Feuerwerkskörper außerhalb des Stadions kaum wahrzunehmen sind.
Es ist eine alte Weisheit dieser Fußball-Weltmeisterschaften, die nicht immer, aber dann doch ziemlich häufig aufgeht. Das Team des Gastgebers wächst über sich hinaus, getragen vom eigenen Publikum und der Euphorie im Land - in diesem Fall 78.000 wild gewordene Zuschauer im Luschniki und hunderttausende weitere vor den Fernsehern. Das kann Kräfte und Kilometer freisetzen. Schon in der Vorrunde gab es zwei deutliche Siege (4:0 gegen Saudi-Arabien, 3:1 gegen Ägypten). Und der Heimvorteil hilft manchmal sogar im Elfmeterschießen.
Einen Viertelfinal-Einzug hat allerdings vor dem Turnier so gut wie niemand für möglich gehalten. Vernichtend waren die Kritiken in der heimischen Presse für die Mannschaft von Trainer Stanislaw Tschertschessow angesichts magerer Ergebnisse in den Vorbereitungsspielen. Hinzu kamen Dopingverdächtigungen in internationalen Medien, die die FIFA vor dem Turnier überprüft und "mangels ausreichender Beweise" zurückgewiesen hat. Russland spielte so, wie es die FIFA-Weltrangliste vermuten ließ. Platz 70 - noch hinter Fußball-Schwergewichten wie den Kapverden (65.) und Saudi-Arabien (67.). "Niemand hat große Hoffnungen gehabt", sagt die russische Journalistin Alina Matinyan. "Aber jetzt hat das Team alle überrascht."
Wenig glamourös, aber voller Inbrunst
Der Fußball ist weiterhin wenig glamourös, aber er ist voller Inbrunst und Kampfeslust. Russland läuft die Gegner in Grund und Boden, es sind im Schnitt die meisten Kilometer pro Spiel (im Achtelfinale waren es fast zehn mehr als Spanien, 146 Kilometer zu 137 Kilometer) - was in den Sozialen Medien erneut Zweifel an der sauberen Leistung gesät hat. Einen kleinen Star hat die Nationalelf auch schon hervorgebracht, wobei klein sich eher auf den Status, weniger auf den Mann selbst bezieht. Der 1,94-Meter Hühne Artom Dschjuba hat drei Tore in vier Spielen erzielt, auch gegen Spanien traf er kurz vor der Halbzeit per Handelfmeter zum Ausgleich. Ein kantiger Kraftprotz, der sich in vorderster Front leidenschaftlich in Zweikämpfe mit Abwehr-Rambo Sergio Ramos haut. Seine Auswechslung wurde so furios gefeiert, man hätte sie mit verbundenen Augen auch mit einer großen Torchance verwechseln können.
Mit diesem Stil und natürlich dank des Erfolgs hat die “Sbornaja” ihre Fans zurückerobert. Und die können ihr Glück kaum fassen. Tausende tanzten aus dem Stadion, freudetrunken in Russland-Fahnen gehüllt. Auf der berühmten Nikolskaya mitten im Zentrum wurde gefeiert bis spät in die Nacht. Wie weit kann die Euphorie das Team noch tragen? "Argentinien, Deutschland, Spanien - alle raus. Diese WM ist unberechenbar", sagt Olga, eine der Anhängerinnen mit riesiger Flagge über den Schultern. "Wer weiß, vielleicht können wir das Turnier sogar gewinnen!" Ob sie nun wirklich anfangen zu träumen, und mit der Tradition brechen?