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Politik

"Russland will sein Volk aufbessern"

24. März 2023

Warum verschleppt Russland ukrainische Kinder und wie kehrten einige von ihnen auf ukrainisches Gebiet zurück? Die Kinderrechtsbeauftragte des ukrainischen Präsidenten, Daria Herasymtschuk, im DW-Interview.

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Kinder in einem Bus, die durch die verschmutzte Scheibe schauen. Ein kleines Kind mit Schnuller drückt die Hände gegen die Scheibe
Auch aus der russisch besetzten Stadt Isjum wurden Kinder nach Russland gebracht (Archivbild vom 20. April 2022)Bild: Mikhail Voskresenskiy/SNA/IMAGO

Seit Beginn der großflächigen Invasion hat das russische Militär Tausende von Kindern aus der Ukraine nach Russland gebracht. Die DW hat mit Daria Herasymtschuk, der Kinderrechtsbeauftragten des ukrainischen Präsidenten, über die Verantwortlichen für die Verschleppung ukrainischer Kinder gesprochen, über die Szenarien, nach denen Russland vorgeht, und wie Kinder in das von Kiew kontrollierte Territorium der Ukraine zurückkehren können.

DW: Frau Herasymtschuk, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa wegen des Verdachts der Entführung ukrainischer Kinder nach Russland erlassen. Sind diese beiden die einzigen Verantwortlichen?

Daria Herasymtschuk: Viele Menschen haben damit zu tun. Insbesondere Vertreter lokaler Behörden in verschiedenen Regionen Russlands, die solche Kinder aufnehmen. Alle von Vertretern der russischen Behörden hinterlassenen Videobeweise werden von der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft dokumentiert und den Ermittlern des Internationalen Strafgerichtshofs übergeben. Daher denke ich, dass die Liste der Verdächtigen noch länger werden wird.

Daria Herasymtschuk mit einem Mikrofon in der Hand bei einer Veranstaltung
Daria Herasymtschuk lässt nach ukrainischen Kindern in Russland suchenBild: Office of the representative of the President of Ukraine on children's rights

Der Haftbefehl gegen Putin und Belowa ist ein historischer Vorgang und der erste Schritt zur Anerkennung des Völkermords am ukrainischen Volk durch Kindesentführungen. Denn gemäß den Bestimmungen des Artikels 2 der Konvention zur Verhütung des Völkermordes von 1948, des Artikels 6 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und des Artikels 442 des Strafgesetzbuchs der Ukraine ist die zwangsweise Verbringung von Kindern von einer Gruppe zur anderen mit dem Ziel, eine nationale, ethnische oder rassische Gruppe zu vernichten, Bestandteil des Verbrechens des Völkermordes.

Was meinen Sie? Entführt Russland ukrainische Kinder, um sie zu Russen zu machen?

Ja, die Russen wollen ihr Volk mit ukrainischen Kindern aufbessern. Ihr ganzes Vorgehen deutet darauf hin, dass sie nicht vorhaben, die Kinder zurückzugeben. Russland hat die Verfahren zur Adoption und Einbürgerung beschleunigt und bietet für Kinder aus der Ukraine kostenlose Bildung an. Mehr noch, die Russen suchen Kinder aus, indem sie sogenannte medizinische Untersuchungen durchführen, bei denen die Kinder in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Das heißt, sie wählen die Gesündesten aus, um ihr Volk mit ukrainischen Kindern aufzubessern.

Ist das Ihrer Meinung nach eine von Russland geplante Aktion oder sind es eher Maßnahmen aus der Situation heraus?

Von Beginn der Invasion der Ukraine an hatte Russland einen klaren Plan, was mit ukrainischen Kindern geschehen sollte. Die Umsetzung begann schon 2014 nach der Annexion der Krim. Die Russen änderten die Staatsbürgerschaft von Kindern und richteten den sogenannten "Zug der Hoffnung" ein, mit dem Bürger der Russischen Föderation zur illegalen Adoption von Kindern auf die Krim fahren konnten.

Derzeit gibt es in Russland mindestens fünf Szenarien, nach denen Kinder entführt werden. Wir sind zu diesem Schluss gekommen, nachdem wir die Wege von 308 Kindern analysiert haben, denen es gelungen ist, zu ihren Eltern in das von Kiew kontrollierte Territorium der Ukraine zurückzukehren.

Was sind das für Szenarien der Kindesentführung?

Im ersten Szenario trennen die Russen bei sogenannten Filtrationsmaßnahmen Kinder von ihren Familien. Die Eltern werden ohne Grund verhaftet und die Kinder einfach weggebracht. Es gab einen Fall, in dem ein Vater von drei Kindern festgenommen wurde und erst nach drei Monaten freikommen konnte. Zu dieser Zeit waren die Kinder bereits in Russland, aber es ist uns gelungen, die Familie wieder zusammenzuführen. 

Im zweiten Szenario töten die Russen die Eltern und nehmen dann die Kinder mit.

Im dritten Szenario werden die Kinder direkt der leiblichen Familie weggenommen. Manchmal geschieht dies durch den Entzug der elterlichen Rechte. Oft wird dies bei "unbequemen Eltern" angewandt, die nicht mit den Besatzungsbehörden zusammenarbeiten wollen.

Das vierte Szenario ist, wenn die Russen uns nicht erlauben, Kinder aus institutionellen Betreuungseinrichtungen herauszuholen, die unter russische Besatzung geraten sind. Russland war nie bereit, humanitäre Korridore zu gewähren, damit diese Kinder herausgeholt werden können. Stattdessen werden sie entführt. Seit Beginn der umfassenden Invasion wurden Kinder aus vier Einrichtungen entführt, und die aus zwei konnten wir wieder zurückholen.

Ukrainische Kinder wissen, was Krieg bedeutet

Das fünfte und letzte Szenario ist das häufigste: Erst schaffen die Russen in den besetzten Gebieten schlechte Lebensbedingungen für Kinder. Dann wird den Eltern angeboten, ihr Kind zu einer angeblichen Rehabilitation in Erholungslager in der Russischen Föderation zu schicken. Aus diesen Lagern kehren die Kinder dann aber nicht mehr zurück und sie werden ohne Zustimmung ihrer Eltern weggebracht. Einige der Kinder, die wir zurückholen konnten, waren über ein Jahr in solchen Lagern.

Wie können die Kinder zurückgeholt werden?

Um ein Kind zu finden und zurückzuholen, muss man wissen, nach wem man suchen soll. Daher wurde die staatliche Plattform "Kinder des Krieges" geschaffen, die aktuelle Informationen und persönliche Daten von Kindern enthält, die unter dem Krieg in Russland gelitten haben. Gleichzeitig verstecken die Russen unsere Kinder so gut wie möglich: Sie bringen sie weg, versuchen, ihre Namen zu ändern usw. Daher gestaltet sich die Suche sehr schwierig, insbesondere nach kleinen Kindern, die sich nicht erinnern können, woher sie stammen.

Ein sehr wichtiger Punkt ist, ob das gesuchte Kind Verwandte in dem von der Ukraine kontrollierten Gebiet hat, die eine Vormundschaft regeln und das Kind mit ukrainischer staatlicher Unterstützung aus Russland herausholen können.

Haben Sie aktuelle Zahlen, was die entführten Kinder betrifft?

Alle aktuellen Daten werden jeden Morgen auf der Plattform "Kinder des Krieges" aktualisiert. Zurzeit sind es 16.226 deportierte und gewaltsam verschleppte Kinder. Das ist nicht nur einfach eine Zahl, sondern eine Namensliste, die auf Angaben von Eltern, Angehörigen, Behörden oder Zeugen beruht.

Diese Informationen werden von den zuständigen Behörden überprüft und wegen jedem Kind wird ein Verfahren eingeleitet. Das heißt, es handelt sich um konkrete Daten. Aber ein Teil des Territoriums der Ukraine ist besetzt und dort haben wir keinen Zugang. Deswegen werden die Bürger erst nach der Befreiung mitteilen können, wer wann entführt wurde.

Es handelt sich möglicherweise um mehrere hunderttausend entführte Kinder. Die russischen Behörden sprechen in den Medien von einer sogenannten "Evakuierung" von 744.000 ukrainischen Kindern. Diese Zahl wird jedoch nicht durch Listen oder persönliche Daten bestätigt, sodass wir sie für unsicher halten.

Das Gespräch führte Oleksandr Kunyzkyj

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk