Russlands Pläne für eine "Volksrepublik Cherson"
15. März 2022Seit Anfang März hält Russland die Region Cherson im Süden der Ukraine besetzt. Offenbar versucht Moskau dort eine Pseudo-Republik auszurufen, ähnlich wie 2014 in den Regionen Luhansk und Donezk. Die Methoden sind dieselben: Mit einem gefälschten Referendum soll eine sogenannte "Volksrepublik Cherson" legitimiert werden.
Dies berichten Abgeordnete des Regionalrats von Cherson. Sie wurden von den Besatzern telefonisch aufgefordert, mit ihnen zu kollaborieren und auf einer Ratssitzung der Schaffung einer solchen "Volksrepublik" zuzustimmen.
Anruf von der "neuen Verwaltung"
"Diejenigen, die uns anrufen, bezeichnen sich als 'neue Verwaltung der Region Cherson'", sagt Serhij Chlan, Fraktionsvorsitzender der Partei "Europäische Solidarität". Ihm zufolge haben die Besatzer zuerst die Chefs der Fraktionen angerufen.
"Ich habe sofort das ukrainische Präsidialamt darüber informiert. Dann haben wir umgehend eine Sondersitzung des Regionalrats einberufen und in einer Erklärung an alle ukrainischen Behörden unterstrichen, dass die Region Cherson integraler Bestandteil der Ukraine ist", sagt Chlan. Auch die Abgeordneten des Stadtrates schlossen sich einstimmig der Erklärung an.
Unterdessen eröffnete die Staatsanwaltschaft der Region Cherson ein Strafverfahren wegen Angriffs auf die territoriale Integrität der Ukraine. Auch die Behörde bestätigt, die Besatzer würden ein illegales Referendum über die Ausrufung einer Quasi-Republik planen.
Einschüchterungen und Drohungen
Bislang ist es den russischen Besatzern aber nicht gelungen, ein Pseudo-Referendum abzuhalten, da tausende Einwohner von Cherson sowie anderer Städte in der Region zu pro-ukrainischen Kundgebungen gehen, auf denen sie gegen die russischen Besatzer protestieren.
"Die Demonstrationen haben keine Anführer. Die Menschen gehen einfach auf die Straße, obwohl die russischen Soldaten ihre Maschinengewehre auf sie richten. Die Menschen wollen auf diese Weise zeigen, dass alle Versuche, in der Region Cherson eine 'Volksrepublik' zu schaffen, illegal und vergeblich sind", sagt ein Aktivist, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte.
Ihm zufolge fingen die russischen Besatzer sehr schnell mit der Organisation eines gefälschten Referendums an. Sie würden nun gesellschaftliche Aktivisten, Menschenrechtler und Vertreter der lokalen Behörden einschüchtern, um eine Pseudo-Republik durchzusetzen.
Bürgermeister tritt zurück
So wird in der Stadt Kachowka der bekannte Journalist Oleh Baturyn, Mitarbeiter der regionalen Zeitung "Nowyj Den", vermisst. Ferner haben Unbekannte das Haus von Halyna Luhowa, der Leiterin des Chersoner Stadtrats, niedergebrannt. "Ich bin jetzt obdachlos. Ich stehe wohl auf deren Todesliste", erklärte die Politikerin gegenüber dem ukrainischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Aufgrund von Einschüchterungen und Drohungen löschen inzwischen lokale Journalisten zuvor veröffentlichte Artikel und Beiträge. Eine der größten Zeitungen in der Stadt Henitschesk hat ihre Arbeit ganz eingestellt.
Angeführt von Bürgermeister Oleksandr Tulupow hat es die öffentliche Verwaltung von Henitschesk abgelehnt, mit den russischen Besatzern zusammenzuarbeiten und ein Pseudo-Referendum abzuhalten. Alle Vertreter der Stadt sind geschlossen von ihren Ämtern zurückgetreten.
"Schwerster Tag in unserem Leben"
"Dies ist für mich und mein Team der schwerste Tag in unserem Leben. Wir müssen feststellen, dass wir unter solchen Bedingungen unsere Aufgaben als Vertreter der ukrainischen Kommunalverwaltung nicht länger wahrnehmen können", heißt es in einer Mitteilung von Tulupow auf der Website des Stadtrats von Henitschesk.
Tulupow ist Mitglied der "Oppositions-Plattform - Fürs Leben". Die Partei gilt in der Ukraine eigentlich als prorussische politische Kraft. Der Fraktionschef der Partei im Stadtrat von Cherson, Jurij Stelmaschenko, fürchtet, dass die Region von einer humanitären Krise betroffen sein könnte, denn seit zwei Wochen würden keine Medikamente, Treibstoff, Industrieprodukte und Nahrungsmittel mehr geliefert.
"Seit zwei Wochen isoliert"
Die "Humanitäre Hilfe" des russischen Militärs würden in Cherson bislang nur vereinzelte Menschen annehmen. Sollte sich aber die Lage weiter verschlechtern, könnten die Ukrainer einfach gezwungen sein, sie zu akzeptieren und auf diese Weise zu einem Pseudo-Referendum gedrängt werden", so eine Vermutung von Stelmaschenko.
"Wir tun alles, um dies zu verhindern, aber die Stadt ist seit zwei Wochen isoliert", sagt der Stadtrat. "Die Wirtschaft liegt am Boden, Geschäfte sind geschlossen. Wir haben keine Verbindung zu anderen Regionen der Ukraine. Hilfskonvois werden nicht durchgelassen, obwohl ständig über humanitäre Korridore verhandelt wird. Wir werden bis zuletzt durchhalten, aber wie viele Menschen werden das unter diesen Bedingungen überleben?
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk