Geburtstag ohne Diktator Kim
10. Oktober 2014Kommt er oder kommt er nicht? Das war die entscheidende Frage, die Nordkorea-Beobachter und auch die internationale Presse vor den Feierlichkeiten zum 69. Jahrestag der regierenden nordkoreanischen Arbeiterpartei an diesem Freitag beschäftigte. Die Antwort lautet: Nein. Auf den von der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA verbreiteten Gästelisten tauchte der Name Kim Jong Un nicht auf. An den Zeremonien nahm stattdessen Hwang Pyong So, die faktische Nummer Zwei in der Staatshierarchie, teil. Und das Rätselraten um den Verbleib Kim Jong Uns geht weiter.
Eigentlich ist Kim Jong Un ein öffentlicher Diktator. Ob beim Besuch einer Fabrik, bei Militärübungen oder mit seiner Gattin im Freizeitpark - bei sämtlichen Terminen, die der junge Diktator absolviert, sind Kameras dabei. So ist es Usus, seit er nach dem Tod seines Vaters Kim Jong Il Ende 2011 dessen Nachfolge angetreten hat. "Kim Jong Un lässt die Medien und die Menschen viel näher an sich heran, als das etwa sein eher verschlossener Vater getan hat", erklärt Rüdiger Frank, Ostasienwissenschaftler an der Universität Wien und Autor des im September erschienen Buches "Innenansichten eines totalen Staates".
Seit mittlerweile über einem Monat aber ist alles anders. Seitdem ist Kim Jong Un wie vom Erdboden verschluckt. Zum letzten Mal öffentlich gesehen wurde er am 3. September bei einem Konzertbesuch. Schon damals fiel auf: Der Führer humpelte, schien sich nur unter Schmerzen bewegen zu können. Die Bilder seines Auftritts legten den Grundstein für eine ganze Reihe von Spekulationen, die sich seitdem um das Schicksal des jungen Diktators ranken: Hat Kim gesundheitliche Probleme, leidet er unter Gicht oder Beinproblemen in Folge seines Übergewichts? Und das sind noch die harmloseren Gerüchte.
Viele Vermutungen, keine Fakten
So taucht beispielsweise auch die Frage auf, ob nicht vielmehr politische Entwicklungen hinter seinem plötzlichen Abtauchen stehen. Wurde Kim am Ende sogar entmachtet? So vermuteten Exil-Nordkoreaner auf dem Online-Nachrichtenportal "New Focus International", nachdem vor knapp einer Woche die Nummern Zwei, Drei und Vier in der nordkoreanischen Hierarchie überraschend den Süden besucht und dort Gespräche geführt hatten. Ein besonderes Indiz für die Umsturztheorien: Die Delegation reiste in der Präsidentenmaschine an. "Da war quasi die höchste politische Führung an Bord - mit Ausnahme von Kim Jong Un. Für mich sahen die drei nicht aus wie einfache Gesandte, sondern eher wie diejenigen, die tatsächlich das Ruder in der Hand haben", meint Aidan Foster-Carter, freier Nordkorea-Experte an der britischen Universität Leeds, im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Auch wenn er nach wie vor gesundheitliche Gründe als die wahrscheinlichste Ursache für das Abtauchen Kims ansieht - nach Meinung von Foster-Carter stellt sich seit dem innerkoreanischen Spitzentreffen in Incheon auch die Frage nach einer möglichen Machtverschiebung hinter den Kulissen. "Es muss gar nicht so etwas Dramatisches wie ein Putsch sein." Aber es gebe durchaus gerissene Strippenzieher im Hintergrund, denen zwar klar sei, dass "sie Kim Jong Un als symbolische Figur brauchen", die dem jungen, auch als Hitzkopf geltenden Diktator aber nicht vertrauten.
"Keine Auffälligkeiten im Land"
Rüdiger Frank war vor drei Wochen zuletzt in Nordkorea, zu diesem Zeitpunkt habe er keinerlei Hinweise auf eine Machtverschiebung feststellen können, berichtet er. "Im Vergleich zum Vorjahr wurde der Name des aktuellen Führers deutlich häufiger auf den überall präsenten Losungen verwendet, und auch in gedruckten Schriften wird seine Person immer stärker betont", so Frank im Gespräch mit der Deutschen Welle. Das gegenwärtige System in Nordkorea sei auf einen einzigen Führer ausgerichtet, und das sei momentan ganz klar Kim Jong Un. Aus diesem Grund hält Frank auch einen offenen Putsch für unrealistisch. "Das wäre aus Sicht der Elite eine große Dummheit. Es ist eher möglich, dass sich verschiedene Gruppen um Einfluss auf den Führer bemühen - aber nicht darum, ihn zu ersetzen."
Auch die südkoreanische Regierung hat sich von Mutmaßungen über eine politische Schwächung Kim Jong Uns distanziert. Nach Angaben eines Sprechers des Wiedervereinigungsministeriums übe er allem Anschein nach seine Amtsgeschäfte wie gewohnt aus, schreibt die südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap am Freitag.
Ausdruck eines neuen Politikstils?
Anders als die internationale Presse berichten die nordkoreanischen Medien kaum und nur sehr zurückhaltend über die Frage, warum Kim Jong Un aus der Öffentlichkeit verschwunden ist und wie es ihm geht. Dort war lediglich die Rede von einem "Unwohlsein" des jungen Machthabers. Darüber hinaus aber sei "die Gesundheit des Führers offiziell kein Thema", so Rüdiger Frank. Dennoch glaubt er, dass es auch im Land selbst Gerüchte gibt. Denn die Bilder des hinkenden Führers waren auch im dortigen Staatsfernsehen zu sehen.
Aus Sicht von Frank könnte das ein taktischer Schachzug des Machthabers sein, ein gezielt gewählter Umgang mit der eigenen körperlichen Schwäche. "Mit Hilfe seiner wie auch immer gearteten Erkrankung will er zeigen, dass auch er nur ein Mensch ist, der sich für sein Volk aufopfert." Noch stelle die Bevölkerung keine Fragen, sagt auch Aidan Foster-Carter. Zu groß sei die Angst. Doch irgendwann würden auch die Menschen in Nordkorea beginnen, Antworten zu verlangen. "Auf jeden Fall stellt der Umgang mit diesem Thema für das Regime eine große Herausforderung dar."
Zurück zum "Business as usual"?
Seit fast anderthalb Monaten dauert das Rätselraten um den eigentlich in der Öffentlichkeit so präsenten Staatschef nun schon an. Aber auch wenn Kim Jong Un irgendwann wieder auf der Bildfläche erscheint - das heißt nicht unbedingt, dass es dann auch erschöpfende Antworten auf alle Fragen im Zusammenhang mit seinem Verschwinden geben wird. "Üblicherweise würde es so ablaufen, dass er auf einmal wieder da ist und alles weitergeht wie bisher", meint Rüdiger Frank. So, als sei nichts geschehen.
Allerdings, fügt der Experte hinzu: "Bei Kim Jong Un sind viele Dinge anders als bei seinen Vorgängern. Man kann also nichts ausschließen." Unterm Strich bleibt vor allem eins: Ungewissheit. In seinem Buch schreibt Rüdiger Frank - ganz unabhängig von den jüngsten Entwicklungen: "Je wichtiger ein Element des politischen Systems Nordkoreas ist, umso weniger gesichertes Wissen haben wir und umso mehr sind wir auf Gerüchte angewiesen." Ein Satz, der im Fall des verschwundenen Diktators Kim Jong Un passt wie die Faust aufs Auge.