Rätselraten um den russischen Truppenabzug
16. Februar 2022Der vorgebliche Rückzug russischer Truppen aus dem Grenzgebiet zur Ukraine hatte Hoffnung auf Entspannung geweckt. Dabei ist völlig unklar, ob es überhaupt einen Grund für diesen vorsichtigen Optimismus gibt, denn im Westen gibt es erhebliche Zweifel an dem vermeintlichen Teilabzug. "Bislang haben wir vor Ort keine Deeskalation gesehen. Im Gegenteil: Russland scheint den Militäraufmarsch fortzusetzen", sagt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Bewegungen von Truppen und Kampfpanzern bewiesen noch nicht, dass es einen echten Rückzug gebe. "Sie haben Truppen immer vor- und zurückbewegt." Russland behalte die Fähigkeit, ohne jegliche Vorwarnzeit eine umfassende Invasion zu beginnen.
Ähnlich äußerte sich US-Außenminister Antony Blinken. Er zweifelte die russische Darstellung im US-Fernsehsender MSNBC an. "Was Russland sagt, ist das eine. Was Russland tut, ist das andere." Es wäre gut, "wenn sie ihren Worten Taten folgen lassen würden, aber bis jetzt haben wir das nicht gesehen", sagte er. Russische Soldaten "bleiben in einer sehr bedrohlichen Weise entlang der ukrainischen Grenze versammelt". Auch Großbritannien und die deutsche Bundesregierung erklärten, eine Bestätigung für den russischen Abzug liege noch nicht vor.
"Russland tut nur so"
Man könne nicht von Entspannung sprechen, sagt auch der Politologe Dr. Stefan Meister. Der Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) spricht von einem taktischen Schachzug der russischen Seite. "Russland deeskaliert nicht, sondern es tut nur so, als ob es deeskalieren würde", sagte Meister der DW. Es gehe darum, den Druck etwas nachzulassen, um dann wieder eskalieren zu können.
Das Verteidigungsministerium in Moskau bleibt hingegen bei seiner Lesart eines Abzugs von Truppen. So wird berichtet, dass Soldaten von der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer in ihre Kasernen zurückgekehrt seien. Zudem wurde ein Video veröffentlicht, das einen Zug mit Panzern und anderen Militärfahrzeugen auf der Krim-Brücke zeigt. Diese Brücke führt von der Halbinsel, die sich Russland 2014 einverleibt hatte, aufs russische Festland. Schon am Dienstag hatte Moskau den Abzug erster Truppen nach Ende von Manövern angekündigt.
Der Kreml wirft der NATO vor, die Lage nicht richtig zu beurteilen. Im Gegenzug wird behauptet, die USA hätten zur Abschreckung Russlands eigene Truppen mit einer Stärke von 60.000 Soldaten, 200 Panzern und 150 Kampfflugzeugen in Europa stationiert.
Die Dialogbereitschaft des Westens geweckt?
Der Westen ist seit Wochen wegen des russischen Truppenaufmarschs nahe der ukrainischen Grenze in höchster Sorge. Zudem hält das russische Militär mehrere Manöver ab, darunter auch im Nachbarland Belarus direkt an der Grenze zur Ukraine. Nach der Übung, die am Sonntag enden soll, würden alle Truppen abgezogen, heißt es in Moskau.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow ließ vor Journalisten durchblicken, was hinter dem Truppenaufmarsch der vergangenen Wochen stecken könnte. Der Westen habe sich nun auf einen Dialog eingelassen, nachdem "wir das Problem der Sicherheit in Europa verschärft haben". Nun gebe es die Bereitschaft, über die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen, über die Transparenz von Manövern und über die Wiederherstellung von Kontakten zwischen den Militärs Russlands und der NATO-Staaten zu reden, sagte Lawrow.
NATO-Staaten bringen neue Bataillone in Osteuropa auf den Weg
In Brüssel haben die Verteidigungsminister der 30 NATO-Staaten unterdessen über Pläne für eine zusätzliche Abschreckung Russlands beraten. Bereits in der vergangenen Woche wurde der Aufbau einer zusätzlichen Militärpräsenz im östlichen Bündnisgebiet auf den Weg gebracht. Insbesondere sollen in südwestlich der Ukraine gelegenen NATO-Ländern wie Rumänien multinationale Kampftruppen stationiert werden. Die Umsetzung könnte laut Generalsekretär Stoltenberg noch in diesem Frühjahr erfolgen. Ob Deutschland sich an einem multinationalen Gefechtsverband in Rumänien oder einem anderen Land südwestlich der Ukraine beteiligen würde, ist bislang unklar. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) betonte, dass über eine dauerhafte Verstärkung der Nato-Ostflanke erst in einigen Monaten entschieden werden solle.
Ukraine lässt Flaggen hissen
Die Ukraine beging angesichts von US-Warnungen vor einem russischen Einmarsch einen "Tag der nationalen Einheit". In der Hauptstadt Kiew war über Lautsprecher die Nationalhymne zu hören. Zudem wurde vielerorts die Landesflagge gehisst. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem wichtigen Tag für sein Land. Die US-Geheimdienste hatten einen russischen Angriff auf die Ukraine für diesen Mittwoch prophezeit.
cwo/rb (dpa, afp, rtr)