Rückkehr der Taliban
12. April 2012Die Bartlänge entscheidet in vielen Dörfern Nuristans über Freiheit oder Gefängnis: Die Hälfte der Provinz Nuristan soll mittlerweile von den Taliban kontrolliert werden. Die Radikalislamisten bestimmen in den von ihnen besetzten Gebieten das öffentliche und private Leben. Was die Menschen anziehen, wie lang die Kopf- und Barthaare sein müssen, Mediennutzung und Wahl der Arbeitsstelle, alles wird von den schwer bewaffneten Kriegern vorgegeben, die sich selbst als "sia poschan", die "Schwarzgekleideten" bezeichnen.
Provinzgouverneur Tamim Nuristani erhält nach seinen Worten "viele Berichte darüber, was die Taliban vor allem in den Bezirken Kamdesch und Barg-e Matal treiben. Wir wissen auch, dass sie jedem, der für die Regierung arbeitet, schlimme Strafen angedroht haben." Mehrere Familien hätten ihre Dörfer aus Furcht vor Rache schon verlassen.
Der Landesvater verspricht, dass im Laufe des Jahres die Taliban aus seiner Provinz vertrieben würden. Doch daran glauben die Leute nicht. Muhammad Gul, ein Bewohner aus dem Bezirk Kamdesch, sagt, dass ihnen schon oft ein Sieg über die Taliban versprochen worden sei: "Die Taliban werden in unserem Wohnort immer stärker. Sie sind überall. Sie haben ihre eigenen Verwaltung und Gerichte. Auch die Amerikaner haben nichts gegen sie unternehmen können."
Sicherheitsvakuum
Die von den USA geführten ISAF-Truppen in Afghanistan haben in den vergangenen Jahren mehrmals die Taliban aus Nuristan vertrieben, doch meist nur für eine kurze Zeit. Ende 2010 zogen sich die US-Truppen aus der Region um Nuristan zurück. Ein großer Fehler, wie viele afghanische Experten finden. Denn die afghanischen Sicherheitskräfte sind bislang nicht in der Lage, allein mit den Kämpfern der Taliban fertig zu werden.
Nuristan besitzt rund 240 Kilometer gemeinsame Grenze mit Pakistan. Die Taliban-Kämpfer finden, wenn sie von den Koalitionstruppen zu stark bedrängt werden, Zuflucht im benachbarten Chitral, einem Bezirk im Stammesgebiet auf der pakistanischen Seite. Umgekehrt seien in den vergangenen Monaten immer mehr pakistanische Taliban in Nuristan eingerückt, berichtet Henayatullah Mazabyar, Mitglied des Provinzrates in Nuristan. "Es sind nicht nur pakistanische Talibankämpfer, die in Nuristan aktiv sind, sondern auch pensionierte Offiziere der pakistanischen Armee. Diese ehemalige Offiziere kommen regelmäßig über die Grenze, verteilen Geld und versuchen so, die Menschen zum Kampf (gegen die Ausländer) zu motivieren."
Die pakistanischen und afghanischen Taliban, sagt Mazabyar, fühlten sich in Nuristan immer sicherer. Sie seien dabei, die Gebirgsregion zu einem uneinnehmbaren Stützpunkt auszubauen, von wo aus sie sich leicht auf die pakistanische Seite zurückziehen und auch wieder zurückkehren könnten. Deshalb werde hier auch die kommende Offensive der Taliban im Norden und Osten Afghanistans vorbereitet, so der Abgeordnete im Provinzrat von Nuristan.
Kabul wiegelt ab
In Kabul sieht man dagegen die Lage in Nuristan nicht so dramatisch. Auf die Angriffe der Taliban sei man sehr gut vorbereitet, sagt Seddiq Seddiqi, Sprecher des afghanischen Innenministeriums gegenüber der Deutschen Welle."Unsere Polizeikräfte sind dabei, gemeinsam mit der afghanischen Armee wirkungsvolle Militäreinsätze gegen die Taliban in Kamdesch und anderen Orten zu planen."
Militärische Aktionen allein würden aber nicht das Problem der Taliban lösen, kritisiert der aus Nuristan stammende Abgeordnete Mawlawi Ahmadullah. "Nuristan braucht eine funktionierende Verwaltung, die dauerhaft für die Menschen da ist. Die Militärs gehen nach einigen Tagen oder Wochen zurück und die Taliban kommen wieder." Ahmadullah verlangt von der Zentralregierung ein gut durchdachtes Konzept, um seine Provinz langfristig zu befrieden. Mehr Sicherheitskräfte und Beamte müssten dauerhaft nach Nuristan geschickt werden. Solches Personal braucht Kabul zurzeit dringend in vielen Landesteilen, hat es aber nicht zur Verfügung. Nach der pessimistischen Einschätzung von Mawlawi Ahmadullah könnte Nuristan bald die erste Provinz sein, die ausschließlich von den Taliban kontrolliert wird.