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Ségol: Dramatische Lage

Bernd Riegert13. November 2012

In ganz Europa protestieren Gewerkschaften gegen Lohnkürzungen in der Schuldenkrise. Gewerkschafts-Chefin Bernadette Ségol warnt im DW-Interview, auch Deutschland werde den Druck spüren.

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Bernadette Ségol (Foto: Getty Images)
Bild: AFP/Getty Images

Deutsche Welle: Der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC in Brüssel hat für diesen Mittwoch (14.11.2012) zu Streiks und Protesten aufgerufen, erstmals kombiniert mit einem Generalstreik in Portugal und Spanien. Frau Ségol, wie viele Menschen in welchen Ländern werden sich an den Protestversammlungen und den Streiks beteiligen?

Bernadette Ségol: Es nehmen 35 Staaten in verschiedenen Formen an dem Aktionstag teil. In den südlichen Staaten - Spanien, Portugal, Italien und Griechenland - wird gestreikt, aber es gibt Aktionen in vielen anderen Ländern. Das ist ein sehr wichtiger Tag für uns.

Im Süden wird gestreikt, im Norden gibt es einige Versammlungen der Gewerkschaften. Ist das die Solidarität, die Sie sich erhofft haben?

Es ist wichtig, dass der Aktionstag von allen Mitgliedern des Europäischen Gewerkschaftsbundes einstimmig beschlossen worden ist – vom Norden, Westen, Osten und Süden. Die Art und Weise des Protests mag unterschiedlich sein, aber die Botschaft dahinter ist immer die Gleiche: Wir müssen den Kurs ändern. Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung. Das ist der Schlüssel zu allem. Die Form der Aktion ist egal, wichtig ist die Botschaft.

Können sie schätzen, wie viele Menschen an den Protesten in ganz Europa teilnehmen werden?

Es ist sehr schwierig hier Vorhersagen zu machen. Aber ich bin sehr zuversichtlich. Die Nachrichten von den Mitgliedsgewerkschaften sind sehr positiv. Ich hoffe, so viele wie möglich werden mitmachen.

Spanien: Streikende marschieren durch die Straßen (Foto: Stefanie Müller)
Streiks in Spanien: Die Menschen demonstrieren immer wieder gegen Lohnkürzungen und hohe ArbeitslosigkeitBild: CCOO

Wogegen protestieren die Gewerkschaften genau? Sind es die Regierungen, die Sparprogramme verordnen, sind es die Banken, die keine Staatsanleihen aus Spanien oder Italien mehr kaufen oder sind es Regierungen, wie die deutsche, die Ihrer Meinung nach nicht genug unternehmen, um überschuldete Staaten zu retten?

Wir protestieren gegen einen bestimmten Typ von Politik, die wir Austeritätspolitik [Sparpolitik] nennen. Die Löhne werden abgesenkt. Das ist ein Angriff auf den sozialen Frieden, denn das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmen zerstört wird. Das ist ein Angriff auf jegliche soziale Sicherheit. Das passiert vor allem im Süden, aber nicht nur dort. Das europäische Sozialmodell, das wir erreicht hatten, wird zerstört. Früher oder später wird diese Entwicklung auch die Länder erreichen, die heute noch keine Probleme haben, wie etwa Deutschland. Durch die billigen Löhne, die jetzt im Süden durchgesetzt werden, entsteht für die Länder, die noch nicht betroffen sind, ein großer Druck auf Löhne und soziale Bedingungen. Es geht aber auch um Solidarität. Wir können nicht hinnehmen, dass die Menschen für die Probleme zahlen sollen, die die Banken verursacht haben. Gegen dies alles kämpfen wir!

Wenn in Spanien oder Italien gestreikt wird, müssen Unternehmen und Geschäfte schließen. Sie verlieren Geld, aber sie haben die Sparpolitik ja nicht erfunden. Treffen Sie da nicht die Falschen?

Wir wissen, dass der Streik das letzte und schärfste Mittel ist. Wir setzen Streiks nicht einfach so ein. Aber es gibt Zeiten, wo die soziale Notlage so groß ist, dass man Stärke zeigen muss. Und genau das passiert. Man kann mit Menschen nicht wie mit Zahlen umgehen. In Spanien ist die Situation zum Beispiel so dramatisch, dass die Gewerkschaften das Werkzeug des Streiks einfach benutzen müssen.

Wenn Sie den öffentlichen Sektor bestreiken, dann üben sie natürlich Druck auf die jeweiligen Regierungen aus. Gibt es auch Regierungen, wie zum Bespiel in Griechenland, die pleite sind, am Streiktag keine Gehälter zahlen müssen und sich sogar über den Streik freuen, weil sie Geld sparen?

Nun, in Griechenland ist die Lage inzwischen so dramatisch, dass ich nicht weiß, ob und wie viel Geld die Regierung wegen des Streiks einsparen wird. Und, ganz ehrlich, in Griechenland haben wir andere Sorgen. Der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft ist völlig verschwunden. Ob die Regierung Geld spart durch Streiks, ist nicht wirklich das Problem der Gewerkschaften. Wir wollen zeigen, dass noch mehr Sparmaßnahmen unmöglich sind. Die Leute sind verzweifelt und die politische Führung muss ihnen zuhören!

Bernadette Ségol ist Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsverbandes ETUC in Brüssel. In dem Bund sind 85 Gewerkschaften aus allen 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und neun weiteren europäischen Staaten vertreten. Seit Mai 2011 ist die studierte Philosophin Chefin der Dachorganisation europäischer Gewerkschaften. Zuvor war sie Vorsitzende der europäischen Gewerkschaft für staatliche Bedienstete und Telekommunikation.