Ein Jahr ohne Jung Dong-Su
16. April 2015Ein "Alltag in Trauer". So beschreibt Jung Sung-Wook sein Leben. So, wie es seit einem Jahr ist. Alles hat sich verändert für ihn seit diesem Mittwoch im April 2014, dem Tag, an dem sein Sohn Jung Dong-Su an einer Klassenfahrt zur Ferieninsel Cheju teilnehmen sollte. Dort aber kam er nie an. Die Exkursion wurde zu einem Ausflug in den Tod.
Von den insgesamt 476 Menschen an Bord der Unglücksfähre "Sewol" ertranken mehr als 300, die meisten davon Schüler wie Jung Dong-Su. Schon kurz nach dem Unglück stand fest: Viele Menschenleben hätten gerettet werden können - wenn Kapitän und Crew sich anders verhalten und die Passagiere nicht angewiesen hätten, unter Deck zu bleiben. Und wenn das Schiff nicht deutlich überladen gewesen wäre.
Vor dem Untergang der "Sewol" sei er ein ganz normaler Angestellter bei einer Firma gewesen, erzählt Jung Sung-Wook der Deutschen Welle. "Aber seit dem Unglück dreht sich mein Leben nur noch um die Aufklärung der Wahrheit und die Bergung des Schiffes." Ungefähr ein halbes Jahr lang wohnte er gemeinsam mit anderen Opferfamilien in der Nähe des Hafens, fuhr jeden Tag mit dem Lastschiff aufs Meer hinaus, um die Suchaktion mit eigenen Augen verfolgen zu können. Jetzt ist er Sprecher der "Gemeinschaft der Hinterbliebenen des Sewol-Unglücks", kämpft dafür, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und die Hintergründe der Katastrophe lückenlos dokumentiert werden.
Der lange Schatten der "Sewol"
Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. "Die Aufarbeitung steckt noch im Anfangsstadium", erklärt Norbert Eschborn, Landesvertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Seoul. Zwar gab es im vergangenen Jahr schon parlamentarische Untersuchungen zu dem Fall. "Aber eine umfassende Untersuchung des gesamten Vorgangs in all seiner Komplexität steht noch aus. Und genau das ist es, was die Hinterbliebenen fordern."
Sie wollen wissen, warum ihre Kinder, Geschwister oder Partner sterben mussten. Wer trug die Schuld an ihrem Tod? Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es wohl nicht, vieles kam zusammen im Fall der untergegangen Fähre. So trugen nach einem im Sommer 2014 veröffentlichten Untersuchungsbericht neben dem fahrlässigen Verhalten und den Fehlern der Besatzung auch Behördenversagen, Korruption und die Geldgier der Reederei zu dem Unglück bei.
Nach der Tragödie stand Südkorea kollektiv unter Schock, erinnert sich Norbert Eschborn. "Und auch jetzt spielt das Unglück im Bewusstsein der südkoreanischen Öffentlichkeit noch immer eine wichtige Rolle. Das Mitgefühl für die Toten und ihre Hinterbliebenen ist groß." So gebe es wissenschaftliche Belege dafür, dass sich das Konsumverhalten der Südkoreaner in den Monaten nach dem Untergang dramatisch verändert habe und wesentlich weniger Geld für Konsumgüter ausgegeben wurde als sonst. "Und während der Fußball-WM gab es im fußballbegeisterten Südkorea aus Respekt vor den Opfern kaum Public Viewings oder ähnliches. Nicht zuletzt daran sieht man, was für einen tiefgreifenden Einfluss dieses Unglück auf die koreanische Seele hatte."
36 Jahre Haft für den Kapitän, 10 Jahre für den Reeder
Auch juristisch ist der Fall Sewol noch nicht abgeschlossen. Ende vergangenen Jahres wurden sowohl der Kapitän des Schiffes und 14 weitere Crew-Mitglieder als auch der Hauptgeschäftsführer der Reederei in erster Instanz zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. " Die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger waren mit diesem Urteil aber nicht zufrieden", erklärt Eschborn. Sie hatten die Todesstrafe gefordert und gingen in Berufung, die Urteilsverkündung ist für Ende April geplant.
Mehr Klarheit soll jetzt eine eigens eingerichtete Untersuchungskommission bringen. Sie ist allerdings nicht unumstritten. Angehörige der Opfer werfen der Regierung vor, die Ermittlungen zu beeinflussen. "In diesem Gremium sollen auch Mitarbeiter aus dem Ministerium für maritime Angelegenheiten und Personal der inzwischen aufgelösten Küstenwache vertreten sein, also ausgerechnet aus den Behörden, denen Versagen vorgeworfen wird", erklärt Südkorea-Experte Eschborn. "Deshalb ist das Misstrauen groß, was die Objektivität dieser Kommission angeht."
Kritisches Jahr auch für die Regierung
Auch die südkoreanischen Medien sind skeptisch, ob der Untergang der "Sewol" jemals lückenlos aufgeklärt wird. Kurz vor dem Jahrestag finden sich beispielsweise in den Zeitungen regelmäßig Artikel zum Thema. "Die Medien beschäftigen sich nochmal mit dem schlechten Krisenmanagement von damals. Und sie stellen auch kritische Fragen: Hat sich eigentlich etwas geändert im Umgang Koreas mit Fragen der öffentlichen Sicherheit?" Zwar seien im Zuge des Unglücks nicht nur die Küstenwache aufgelöst und das neue Ministerium für nationale Sicherheit gegründet, sondern auch neue Sicherheitsbestimmungen beschlossen worden. Dennoch falle das Urteil unterm Strich deutlich aus, so Eschborn weiter. "Die Presse kommt zu dem Schluss, dass bis heute trotz aller Versprechungen noch keine einzige durchgreifende Konsequenz gezogen wurde."
Ein Vorwurf, der nicht zuletzt an die Adresse der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-Hye gerichtet ist. Die Staatschefin und ihre Regierung standen aufgrund ihres mangelhaften Krisenmanagements stark in der Kritik. Zwei Minister tauschte sie im Zusammenhang mit der Sewol-Katastrophe aus: den Minister für maritime Angelegenheiten und auch den damaligen Premierminister - er hatte seinen Rücktritt angeboten und politisch den Kopf hingehalten. "Die Präsidentin ist natürlich beschädigt aus der ganzen Angelegenheit herausgegangen", analysiert Norbert Eschborn. Ihre Popularitätsraten seien von 61 Prozent vor dem Unglück zwischenzeitlich bis auf 29 Prozent abgestürzt. "Mittlerweile hat Park Geun-Hye den größten Schaden wohl überstanden. Aber ich wage die These, dass sie als Präsidentin eines gescheiterten Krisenmanagments im Fall der Sewol in Erinnerung bleiben wird."
Das Leben muss weitergehen
Erinnerung, das ist auch alles, was Jung Sung-Wook noch bleibt von seinem Sohn. Er hat sich zurückgezogen, spricht nur noch mit Menschen, die ebenfalls jemanden auf der Fähre verloren haben, geht gemeinsam mit ihnen auf die Straße, um gegen Missstände bei den Ermittlungen zu demonstrieren, trat gemeinsam mit anderen zeitweise sogar in den Hungerstreik. "Ich vermeide es, mich mit Verwandten, Freunden oder Bekannten auszutauschen, die meine Situation nicht nachvollziehen können." Das Leben steht still seit dem Tod seines Kindes. Aber das darf es nicht, das weiß er. "Ich habe noch einen anderen kleinen Sohn." Für ihn muss er weiter da sein.
Und noch etwas treibt ihn an: Der Wunsch, Antworten zu bekommen auf die vielen noch offenen Fragen. So quälend sie auch sind. "Wir möchten die Wahrheit herausfinden, warum das Schiff so schnell untergegangen ist und unsere Kinder mit ihm versunken sind." Nichts könne die verlorenen Kinder zurückbringen, auch die vor kurzem von der Regierung angekündigte finanzielle Entschädigung könne sie nicht ersetzen, sagt er. Unsensibel finden er und die anderen Hinterbliebenen dieses Angebot. Ihnen geht es nicht ums Geld. "Das Beste, was die Wahrheitskommission für die Eltern der Verunglückten tun kann, ist nicht finanzielle Kompensation, sondern Aufklärung. Und die Bergung des Schiffes." Denn noch immer sind nicht alle Leichen gefunden. Bis heute warten neun Familien darauf, dass ihre Angehörigen vom Grund des Meeres geborgen werden. Im November 2014 waren die Bergungsarbeiten eingestellt worden – nach dem Tod von zwei Tauchern. Und zum Entsetzen der Hinterbliebenen.
Wenn er die Möglichkeit hätte, einen Wunsch an Park Geun-Hye zu äußern, Jung Sung-Wook wüsste, wie er lauten würde. Ganz schlicht und kurz wäre er - aber dabei trotzdem so wichtig für ihn und die anderen Angehörigen der Opfer. "Wir erwarten von der Präsidentin nur einen Satz: 'Wir ziehen die 'Sewol' hoch.' Das wäre das größte Geschenk für die hinterbliebenen Familien." Genau das hat die Präsidentin den Hinterbliebenen nun am Jahrestag des Unglücks versprochen.