Sahauris sind seit 30 Jahren auf der Flucht
17. Juni 2005Selka steht vor ihrer Hütte, als die Sonne gerade Richtung Horizont wandert und den Menschen etwas Pause gönnt. Mitten in der Wüste lebt sie, bei Temperaturen zwischen 0 und 50 Grad – trotzdem lacht die Frau. Und dann fängt sie an zu erzählen. "Ich bin aus meiner Heimat geflohen, weil die Marokkaner gekommen sind. Sie haben ihre Soldaten geschickt. Sie haben unser Land besetzt. Sie haben uns bombardiert. Viele sind gestorben." Selka hat es überlebt.
Keine Milch, kein Fleisch, kein Gemüse
Als junges Mädchen ist sie aus ihrer Heimat in der Westsahara ins Flüchtlingslager von Smara gekommen. Es liegt im Westen Algeriens in der Nähe von Tindouf. Als Mutter von zehn Kindern lebt sie dort heute immer noch. 30 Jahre sind es jetzt. "Und das Leben ist nicht einfacher geworden", sagt Selka. Das Essen ist knapp. Das Wasser auch. Die Medikamente sowieso. "Vor allem als Mutter ist es nicht einfach", sagt Selka. Es gibt keine Milch. Kein Gemüse. Kein Fleisch. Die Kinder wachsen nicht normal. Sie sind mangel- und unterernährt. Die Frauen sind anämisch. Sie sind schwach.
Selka klagt: Die internationale Gemeinschaft habe sie vergessen. 30 Jahre Nothilfe – und die kommt nur dürftig. Trotzdem lacht sie. Und trotzdem hofft sie, dass sie eines Tages in die Westsahara zurückkehren kann. "Ich wünsche mir für meine Kinder, dass sie das bekommen, was ich als Kind verloren habe: Die Heimat." Aber die ist etliche tausend Kilometer entfernt. Sie ist immer noch ein besetztes Land. Und ein abgeriegeltes Land.
Kamele zwischen Minen
Ein großer Sandwall trennt die Gebiete. Einmal längs durch die Westsahara geht er. Durch Minen ist er gesichert – und durch zahlreiche Wachposten der marokkanischen Armee, die inzwischen mit Radaranlagen jede Bewegung in der Wüste registrieren: Die Kamele, die von unerschrockenen Beduinen durch die Minenfelder geführt werden. Und die Soldaten der Befreiungsbewegung Frente Polisario, die seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1991 mehr oder weniger zum Stillhalten gezwungen ist.
Doch Selka träumt weiter von der Unabhängigkeit. So wie alle Menschen im Flüchtlingslager von Smara. "Es ist doch das einzige, was uns geblieben ist", sagt dazu ein junger Mann – Mohammed heißt er. Gerade hat er sein Studium in Kuba beendet und nun arbeitet er für die Exilregierung im so genannten Verkehrsministerium. Unentgeltlich – so wird es von ihm erwartet. Aber ob das seine Zukunft ist? Fragen wie diese, weist Mohammed brüsk von sich. Über so etwas denkt man hier nicht nach. Die Gemeinschaft ist alles. Nur so können die Sahauris etwas erreichen, wenn überhaupt.
Unbekannte Heimat
Die Vereinten Nationen haben sich bislang nicht durch große Taten hervorgetan. Im Gegenteil: Alle Pläne, alle Vorschläge, wie der Konflikt zwischen der Polisario und der marokkanischen Regierung beigelegt werden kann, sind gescheitert. Meistens an den Marokkanern. Aber daran denkt Mohammed nicht, wenn er sagt, er würde auch wieder in den Krieg ziehen – auch wenn er seine Heimat gar nicht kennt. Er ist ein Flüchtling der zweiten Generation. Die Westsahara kennt er nur aus Erzählungen. Aber er weiß: "Für dieses Land sind schon viele Menschen gestorben. Ihr Tod darf nicht umsonst sein."
So spricht Mohammed, während er im Internetcafé sitzt – dem einzigen weit und breit. So spricht er, während er chattet und versucht, dem ewig gleichen Alltag im Flüchtlingslager zu entfliehen. Denn eigentlich ist er doch ein Kind der neuen Zeit, die inzwischen auch in Smara Einzug gefunden hat. Ein Handy mit Antenne, ein Auto, vielleicht sogar ein DVD-Spieler – das sind die Dinge, die die Menschen nun bekommen können – wenn sie Geld haben, versteht sich, dann können sie sich ein Stück Freiheit kaufen. Mitten in der Wüste. Im Flüchtlingslager.