Lactalis-Krise - ein weltweiter Skandal?
17. Januar 2018Seit dem 5. Dezember vergangenen Jahres ist Quentin Guillemain einfach nur wütend. Damals las er zum ersten Mal in der Zeitung, dass der französische Konzern Lactalis, eines der größten Molkerei-Unternehmen der Welt, eine Reihe von Babymilchprodukten vom Markt zurückholen lasse, die alle in einem Werk in Craon in Nordwestfrankreich produziert worden waren. Der Grund: Verdacht auf Vergiftung mit Salmonellen-Bakterien.
Unter diesen Produkten war auch eine Sorte laktosefreier Milch, die Guillemain mehrere Wochen lang seiner drei Monate alten Tochter gegeben hatte. Natürlich hörte er damals sofort damit auf, seiem Baby die Milch zu geben. Symptome hat die Kleine bisher nicht. Beruhigt aber ist Guillemain dennoch bis heute nicht. Denn weder das Unternehmen noch der Staat haben bisher erklären können, wie genau die Bakterien in die Babyprodukte gekommen und wie weitreichend die Verseuchung ist. Die bisher bekannten Fälle kranker Kinder könnten nur die Spitze des Eisberges sein.
Rund 20 kranke Babys waren damals der Grund für die Rückrufaktion. Eine staatliche Gesundheitsbehörde hatte offiziell bestätigt, dass sie durch Babymilchprodukte mit Salmonellen angesteckt worden waren. Krankheitssymptome sind Erbrechen und Durchfall mit massivem Flüssigkeitsverlust, was gerade für Säuglinge kritisch werden kann. Zu den 20 erkrankten Babys kamen bald fünf weitere hinzu. Inzwischen geht die Regierung von mindesten 37 Fällen aus. Immer weiter hat man die Rückrufaktion ausgeweitet. Vor wenigen Tagen hatte Wirtschaftsminister Bruno Le Maire angekündigt, alle Babymilchprodukte, die bisher in der betroffenen Fabrik in Craon produziert worden sind, zurückholen zu lassen. Dabei geht es um zwölf Millionen Produkte in 83 Ländern.
Kann eine solch gigantische Rückholaktion funktionieren?
Ein gigantisches Unterfangen, das für Guillemain jedoch längst nicht genug sein wird, um wieder Vertrauen zu fassen. Er hat vergangenen Monat einen Verein für betroffene Familien gegründet und als erster Klage gegen Lactalis wegen Gefährdung anderer und unterlassener Hilfeleistung eingereicht. "Ich will jetzt endlich wissen, was genau passiert und wer dafür verantwortlich ist", sagt er der DW.
Außerdem bezweifelt er, dass eine solche Rückholaktion funktionieren kann. "Wir reden hier nicht nur über Industrienationen wie Frankreich, sondern auch über Entwicklungsländer in Afrika und Asien, wo nicht jedes Geschäft Produkte mit einem elektronischen Warensystem erfasst. Vor allem bei kleinen Tante-Emma-Läden wird es doch fast unmöglich sein, alles zurückzuholen." Außerdem hätten nicht in allen Ländern die Menschen Zugang zu einem guten Gesundheitssystem wie in Frankreich, was die Situation noch kritischer mache.
Selbst in Frankreich sind einige der Produkte durchs Netz gerutscht. In einem Supermarkt der Kette Leclerc hat man über 900 möglicherweise verseuchte Produkte verkauft. Andere Supermärkte haben zugegeben, dass sie auch noch nach der Rückrufaktion immer wieder betroffene Produkte in den Regalen gefunden hätten. Der Chef der Kette Intermarché, Thierry Cotillard, warf Lactalis vor, die Krise "chaotisch gemanagt zu haben". Staatliche Kontrollen haben zudem gezeigt, dass eigentlich gesperrte Produkte immer noch in einigen Apotheken, Kindergärten und sogar Krankenhäusern herausgegeben werden.
Selbst die Regierung ist misstrauisch
Aber Michel Nalet, Sprecher des Unternehmens Lactalis, streitet ab, dass es Probleme bei der Rückholaktion gegeben habe. "Wir haben genau definierte Prozeduren und sind mit all unseren Händlern in Kontakt", sagt er gegenüber der DW. "Wir holen die Produkte weltweit zurück und vernichten sie nach genauen Vorgaben." So habe das Unternehmen seit Dezember 6700 Besuche bei Händlern durchgeführt. Zur Vorsicht lasse das Unternehmen jetzt deswegen auch alle jemals in der Fabrik hergestellten Produkte und zudem auch noch dort produzierte Frühstücksflocken zurückholen, so der Sprecher: "Wir wollen einfach auf Nummer Sicher gehen."
Doch selbst die Regierung scheint dem als besonders verschlossen geltenden Unternehmen inzwischen nicht mehr so ganz Glauben zu schenken. Bei staatlichen Proben im Dezember, deren Ergebnisse zur vorläufigen Schließung der Fabrik führten, haben die Gesundheitsbehörden an mehreren Stellen Salmonellen-Bakterien feststellen können - unter anderem in einem System zum Trocknen der Produkte und nicht etwa nur, wie von Lactalis behauptet, an Putzgeräten, die nicht unbedingt direkt mit den Produkten in Kontakt kommen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat mit Sanktionen gedroht, sollte man feststellen, dass das Unternehmen "auf inakzeptable Weise" gehandelt habe. "Und ja, der französische Staat ist durchaus in der Lage, für Lebensmittelsicherheit zu sorgen", sagte er vor kurzem während einer Pressekonferenz in Rom. Ein Sprecher der Regierung erklärte, dass eine Entschädigung, die Lactalis-Chef inzwischen betroffenen Familien versprochen hätte, zwar gut sei, man aber mit Geld nicht alles kaufen könne.
Verseuchung seit 2005?
Dieser immer schärfer werdende Ton der Regierung kann für Guillemain jedoch nicht über die Mitverantwortung des Staates hinwegtäuschen. "Beide Seiten haben viel zu langsam reagiert und nicht die nötigen Schutz-Maßnahmen ergriffen," meint der 33-Jährige. Auch sei bis heute nicht klar, wie weit die Verseuchung zurückreiche. Schließlich hat vor kurzem das Institut Pasteur, eines der weltweit führenden Zentren für Grundlagenforschung für Biologie und Medizin mit Sitz in Paris, festgestellt, dass der heutige Verursacher einem Bakterienstamm ähnelt, die schon einmal 2005 zu einer Verseuchung der Fabrik geführt hatte. Damals gehörte das Werk noch dem Unternehmen Célia, welches Lactalis zwischenzeitlich aufgekauft hatte. "Heißt das etwa, dass noch viel mehr der Produkte, die man seitdem dort produziert hat, verseucht sein könnten?", fragt er sich.
Mit seinem Ärger ist Guillemain längst nicht mehr alleine. Die Pariser Staatsanwaltschaft, die die Klagen gegen Lactalis bündelt, hat inzwischen fünf weitere erhalten. Diese Zahl könnte aber noch stark ansteigen. Denn Klagen kann man in ganz Frankreich dezentral einreichen. Es dauert eine Weile, bis sie in Paris ankommen und registriert werden. Guillemain sagt, mehrere Hundert Familien hätten ihm mitgeteilt, dass auch sie rechtliche Schritte einleiten wollten. Und das sind nur die Zahlen für Frankreich und nicht für die anderen 82 potenziell betroffenen Länder. Zumindest hat die Staatsanwaltschaft am Mittwoch (17.010.2018) nun mehrere Standorte des Unternehmens in Frankreich von der Polizei durchsuchen lassen.