Der Welt geht der Sand aus
17. Mai 2021Aus ihm wird der Beton unserer Häuser, der Asphalt unserer Straßen, unser Fensterglas und das Silizium in den Chips für unsere Mobiltelefone gewonnen. Sand ist das meistverwendete Material auf dem Planeten und ein wesentlicher Baustein des modernen Lebens. Doch er wird immer knapper und niemand weiß genau, wann er zu Neige gehen wird. Das globale Geschäft mit dem Sand ist weitaus intransparenter als bei anderen Rohstoffen, die Industrie agiert teils illegal und verursacht Umweltzerstörungen.
Im Gegensatz zu anderen Ressourcen gibt es nur grobe Schätzungen darüber, wie viel Sand jedes Jahr weltweit verbraucht wird. Ein bahnbrechender Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) aus dem Jahr 2019 musste sich auf Daten aus dem Zementsektor stützen, um auf die grobe Zahl von 50 Milliarden Tonnen Sand pro Jahr zu kommen. Gemischt mit Zement und Kies wird daraus Beton hergestellt. Nachhaltig sind diese Mengen laut Wissenschaftlern nicht.
"Das Kernproblem ist, dass wir das Material nicht gut genug verstehen", sagt Louise Gallagher vom Global Sand Observatory in Genf, eine der Autorinnen des Berichts. "Wir wissen noch zu wenig über die Folgen des Sandabbaus. Manchmal wissen wir nicht einmal, woher er kommt, wie viel aus den Flüssen stammt. Wir haben einfach keine Ahnung."
Sandabbau und Umweltschäden
Was die Experten jedoch wissen: der Abbau von Sand in derart großen Mengen führt zu unverhältnismäßig wachsenden Kosten für die Menschen und den Planeten. Die Sandgewinnung zerstört Lebensräume, verschmutzt Flüsse und erodiert Strände, die bereits durch den steigenden Meeresspiegel abgetragen werden.
Das Abtragen von Sand verursacht außerdem instabile Flussufer. Verschmutzung und ein erhöhter Säuregehalt können zum Fischsterben beitragen und in betroffenen Gebieten bleibt weniger Wasser für Menschen und die Landwirtschaft übrig. Das Problem wird noch verschärft, wenn Dämme flussaufwärts verhindern, dass sich neue Sedimente weiter unten im Flusslauf wieder ablagern können.
"Es gibt noch viele andere Folgen, die nicht beachtet werden", sagt Kiran Pereira. Die unabhängige Forscherin hat ein Buch zu Wegen aus der Sandkrise geschrieben. Die negativen Folgen "spiegeln sich definitiv nicht in den Kosten für Sand wider."
Außerdem sind viele der Auswirkungen nicht sofort sichtbar. Darum sei es so schwer, die Situation richtig einzuschätzen, sagt Stephen Edwards. Er leitet bei der Weltnaturschutzunion (IUCN) die Forschung im Bereich Rohstoffindustrie. "Inzwischen sind Ausmaße erreicht, denen man dringend mehr Aufmerksamkeit schenken muss."
Laut einem 2019 in der Zeitschrift Nature veröffentlichten Artikel hat der Sandabbau in Indien das Gharial-Krokodil im Ganges an den Rand des Aussterbens gebracht. In freier Wildbahn leben inzwischen weniger als 250 der Tiere. Und am Mekong-Strom destabilisiert Sandabbau zunehmend die Flussufer, die Heimat einer halben Million Menschen.
Ein Grund dafür, dass die Schäden durch den Abbau ignoriert werden: Sand ist allgegenwärtig, aber das ist nicht wirklich offensichtlich für die meisten Menschen, so Chris Hackney, Geograph an der Universität von Newcastle in Großbritannien und Co-Autor des Nature-Artikels. "Fragen Sie mal die Leute nach dem wichtigsten Rohstoff auf dem Planeten. Sand wird wahrscheinlich nicht genannt."
Beton-Boom baut auf Sand
Sandknappheit, das klingt paradox. Immerhin bedecken Wüsten ein Drittel der Landfläche der Erde, und Sand gibt es dort reichlich. Doch trotzdem importieren Länder wie Saudi-Arabien den Rohstoff aus Kanada oder Australien. Ein Wolkenkratzer in den Vereinigten Arabischen Emiraten, der 830 Meter hohe Burj Khalifa, wurde mit importiertem Sand vom anderen Ende der Welt gebaut.
Der Grund: Wüstensand ist für die Bauindustrie praktisch wertlos. Wenn der Wind über die Dünen weht, werden die Sandkörner geglättet. Der abgerundete Wüstensand ist weniger griffig als die gezackten, kantigen Sandpartikel die man in Flussbetten, an Stränden oder auf Meeresböden findet. Nur diese bringen die nötige Reibung mit, um Beton stabil genug zu machen.
"Ich bin in Bangalore aufgewachsen und habe ständig Berichte darüber gelesen, dass die Flüsse durch den Sandabbau zerstört werden", so Forscherin Pereira. Zu ihren frühesten Erinnerungen gehört, um zwei Uhr morgens aufzustehen, um Wasser von einem Wasserhahn in der Nachbarschaft zu holen, an dem Leute schon so früh Schlange standen. "Und ich erinnere mich auch daran, dass ich Hunderte von Lastwagen mit Sand sah, die die Straßen entlang fuhren und die Baustellen in der Gegend belieferten."
Die größte Nachfrage nach Sand kommt aus China. Das Land hat in den drei Jahren von 2011 bis 2014 mehr Zement hergestellt als die USA im gesamten zwanzigsten Jahrhundert. Indien, der zweitgrößte Zementproduzent, wird China voraussichtlich bis 2027 als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholen. Immer mehr Menschen in Asien und Afrika ziehen in die Städte, und die Weltbevölkerung wird bis zur Mitte des Jahrhunderts auf 10 Milliarden Menschen anwachsen. Damit steigt auch der Bedarf an Sand.
Und das nicht nur für die Herstellung von Beton. Die Niederlande etwa baggerten im Jahr 2011 rund 20 Millionen Kubikmeter Sand vom Meeresboden ab, um an der Küste natürliche Barrieren zum Schutz vor Erosion und den Folgen der Klimaerwärmung zu errichten. Singapur erweiterte in den vergangenen fünfzig Jahren seine Landfläche um ein Viertel durch den Bau künstlicher Inseln. Der Sand dafür wurde importiert aus Kambodscha, Vietnam, Indonesien und Malaysia. Und der Sand für Dubais künstliche Palmeninseln, die sogar vom Weltraum aus sichtbar sind, wurde vom Grund des Persischen Golfs an die Oberfläche gebracht.
Zusätzlich fordert die Sandindustrie hohe soziale und menschliche Kosten. Seit die Preise für den begehrten Baustoff weltweit steigen, berichtet die Polizei in Ländern von Südafrika bis Mexiko immer wieder von gezielten Morden im Zusammenhang mit dem Abbau von Sand.
Tödliche Sand-Mafias
Nirgendwo gibt es mehr Gewalt um den Rohstoff als in Indien, der Heimat der tödlichsten Sandmafia der Welt. Dort haben kriminelle Banden Journalisten bei lebendigem Leibe verbrannt, Aktivisten erstochen und Polizisten mit Lastwagen überfahren. Laut einem Bericht des South Asia Network on Dams, Rivers and People, einer Umweltgruppe mit Sitz in Delhi, starben in den vergangenen zwei Jahren 193 Menschen in Indien durch illegalen Sandabbau. Die Hauptursachen waren schlechte Arbeitsbedingungen, Gewalt und Unfälle.
Einige Schürfer tauchen pro Tag hunderte Male ohne Schutzkleidung auf den Grund von Flüssen. Und trotz Berichten über Kinderarbeit von Indien bis Uganda wurde die Sandindustrie bisher selten zur Rechenschaft gezogen.
Ende Februar hat ein Sondergericht in Delhi den Chef des indischen Sand-Riesen V.V. Minerals sowie einen ehemaligen Direktor des Umweltministeriums wegen Bestechung ins Gefängnis gebracht. Der Bergbau-Baron hatte zuvor jahrzehntelang Vorwürfe des illegalen Sandabbaus bestritten. Er war dabei erwischt worden, wie er die Studiengebühren für den Sohn eines Beamten im Austausch für eine Umweltbescheinigung bezahlte. Ein Fall, den ein lokales Nachrichtenportal mit dem berüchtigten amerikanischen Mafioso Al Capone verglich, der wegen Steuervergehen ins Gefängnis kam.
Wege aus der Sandkrise
Um die Sandkrise zu lösen, fordern Experten eine bessere Regulierung der Industrie, ein schärferes Einschreiten gegen Korruption, und eine weltweite Überwachung der Sandgewinnung. Zusätzlich könnte der Sandbedarf reduziert werden, wenn mehr Alternativen zum traditionellen Beton und effizientere Bauweisen beispielsweise mit Holz zum Einsatz kommen. Auch könnten Materialen aus abgerissenen Gebäuden als Grundstoff für den Straßenbau weiter verwendet werden.
Einige Forscher und Unternehmer beschäftigen sich inzwischen mit der Möglichkeit, den weltweit reichlich vorhandenen Wüstensand als Baumaterial verwendbar zu machen. Dabei wird er erhitzt und mechanisch bearbeitet, das Verfahren muss allerdings noch effizienter werden, um die Kosten zu senken und den praktischen Einsatz zu ermöglichen.
"Unsere Fähigkeit zu bauen hängt nicht vom Sandbedarf ab", sagt Pereira. "Wir können beides entkoppeln, trotzdem bauen und menschlichen Wohlstand ermöglichen, ohne unser Ökosystem zu zerstören."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.