Saudi-Arabien: Bloß nicht festlegen lassen
10. Juni 2023Am Ende herrschte, so weit wie möglich, Einvernehmen. "Offen" und "ehrlich" seien die Gespräche gewesen, die der US-amerikanische Außenminister Antony Blinken mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MbS) und anderen Vertretern des Königreichs in Saudi-Arabien geführt habe, sagte ein hoher US-Beamter am Mittwoch (07.06.) gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Es habe ein hohes Maß an Übereinstimmung in Bezug auf potenzielle Initiativen gegeben, bei denen man die gleichen Interessen habe - "während wir auch anerkennen, wo wir Unterschiede haben", so der Beamte weiter.
Die Bemerkung deutete an, dass das saudisch-US-amerikanische Verhältnis längst nicht mehr ist, was es lange Zeit schien: Ausdruck einer unverbrüchlichen und selbstverständlichen Partnerschaft. Anders als noch vor einigen Jahren unterscheiden sich die Standpunkte und Interessen beider Länder teils deutlich, nicht nur in Menschenrechtsfragen, bei denen Riad immer seltener bereit scheint, Rücksicht auf amerikanische Interessen oder Befindlichkeiten zu nehmen. Längst verfolgt Saudi-Arabien eine eigene, von den USA weitgehend unabhängige Außenpolitik, in deren Rahmen es seine Beziehungen auch zu anderen gewichtigen internationalen Akteuren neu ordnet, allen voran China und Russland. Die USA sind weiterhin ein sehr wichtiger Partner - haben aus Sicht Riads aber längst nicht mehr ein so dominierendes Gewicht wie früher.
Das Verhältnis beider Länder habe sich insbesondere unter der Präsidentschaft von Joe Biden verschlechtert, sagt Stephan Roll, Saudi-Arabien-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Ein weiterer Grund dürfte der mutmaßlich aus Riad in Auftrag gegebene Mord an den Journalisten Jamal Kashoggi 2018 gewesen sein, der dafür sorgte, dass die Beziehungen beider Länder einer großen Belastung ausgesetzt wurden.
Doch nicht nur im bilateralen Verhältnis knirscht es. Das Verhältnis zu den westlichen Staaten insgesamt habe sich verschlechtert, so Roll: "Diese gelten in Riad als arrogant, unzuverlässig und fordernd."
Annäherung an China
So betreibt Saudi-Arabien, das durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung die eigene Volkswirtschaft für eine möglichst stabile und prosperierende Zukunft trotz sinkendem Ölreichtum fit machen will, Beziehungspflege in andere Richtungen - ganz wesentlich auch in Richtung China. Wie sehr das gute Verhältnis beider Staaten auch in Peking geschätzt wird, zeigte sich bereits im Dezember vergangenen Jahres, als sich der chinesische Präsident Xi Jinping zu einem dreitägigen Staatsbesuch in Riad aufhielt. Er wolle eine "neue Ära" zwischen den beiden Ländern einleiten, erklärte Xi damals.
Dabei geht es auch um wirtschaftliche Interessen. So habe man während des Gipfels Investitionsvereinbarungen im Wert von etwa 50 Milliarden Dollar unterzeichnet, zitierte damals die Nachrichtenagentur Bloomberg den saudischen Investitionsminister Khalid Al Falih. Zudem soll das Königreich fortan täglich 690.000 Fass Öl in die Volksrepublik liefern. Umgekehrt soll das chinesische Telekommunikationsunternehmen Huawei im Königreich die hocheffiziente 5G-Technologie aufbauen. Kritiker warnen, Peking habe damit ein Instrument in der Hand, die Kommunikation innerhalb des Landes zu überwachen.
Entspannung am Golf
Allerdings ist China aus Sicht Riads nicht nur ökonomisch interessant. Welche für die gesamte Region bedeutsamen diplomatischen Fähigkeiten das Land zu entfalten vermag, zeigte sich Anfang April dieses Jahres, als sich die Außenminister der beiden bislang verfeindeten Großmächte der Region, Saudi-Arabien und Iran, in Peking die Hände reichten. Damit scheint die Gefahr einer bewaffneten Eskalation am Persischen Golf erheblich gemindert.
Daran hätten zwar grundsätzlich beide Staaten ein Interesse, vor allem aber Saudi-Arabien, sagt Stephan Roll. Die Annäherung an Iran sei unabdingbar gewesen, um wie angekündigt in möglichst naher Zukunft den Jemen-Konflikt beilegen zu können, in dem sich die beiden Kontrahenten indirekt gegenüberstehen. Gerade die Saudis haben ein großes Interesse daran, denn der Krieg steht Riads weiterer Modernisierung im Wege. Experte Roll: "Das Ende des Krieges ist unabdingbar, damit sich Saudi-Arabien als Wirtschafts- und Investitionsstandort attraktiver machen und finanzielle Ressourcen freisetzen kann, die bislang wegen des Krieges gebraucht wurden."
Umso dankbarer, deutet Roll an, dürfte man in Riad der Vermittlungsarbeit der Chinesen sein. Zwar gilt als fraglich, ob die Verhandlungen von China systematisch vorbereitet und moderiert wurden. Dennoch: Auf jeden Fall habe Peking die Annäherung von Iran und Saudi-Arabien diplomatisch begleitet, sagt Stephan Roll. "Das hätten etwa die USA nicht gekonnt." Damit spielt Roll darauf an, dass die USA und der Iran keine diplomatischen Kontakte miteinander pflegen.
Russland, Krieg und Öl
Auch zu Moskau tariert Riad seine Beziehungen neu aus - und kooperiert mit Russland auch in einer Zeit, in der die westlichen Staaten wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine das Land mit Sanktionen belegt haben. So wurde kürzlich nach einem Treffen des Kartells OPEC+ bekannt, dass Saudi-Arabien seine Fördermenge beim Erdöl von Juli an um eine Million Barrel pro Tag reduziert. Dabei toleriert das Königreich offenbar, dass Russland keinerlei Zusagen gegeben hat, seinerseits ebenfalls die Fördermengen zu begrenzen. Seit Beginn seines Angriffs auf die Ukraine und dem Ausfall der Exporte nach Europa ist Russland zur Finanzierung des Krieges dringend auf Ausfuhren nach Asien angewiesen, insbesondere nach Indien und China.
Anders als die europäischen Staaten setze Saudi-Arabien nicht auf eine Isolation Russlands, sagt Stephan Roll. "Allerdings ist mittlerweile mehr als fraglich, ob sich diese Strategie auszahlt." Denn der in Riad erhoffte Anstieg des Ölpreises dürfte nur dann Wirkung zeigen, wenn sich auch Russland an die offiziellen Vereinbarungen über Exportmengen halte, so Roll. "Russlands Exportpolitik ist aber sehr undurchsichtig. Ich bezweifle, dass die Saudis mit dem russischen Taktieren wirklich glücklich sind."
Anklopfen bei BRICS
Dessen ungeachtet sucht Saudi-Arabien auch die Nähe zu den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Auf einem Treffen dieser Staaten in Kapstadt vor wenigen Tagen erörterten diese auch die Aufnahme neuer Mitglieder - Saudi-Arabien ist für sie nicht zuletzt attraktiv als potentieller Investor in die gemeinsame Bank der BRICS-Staaten. Deutlich ist, dass die BRICS-Staaten sich als Gegengewicht zu den USA und mehr oder weniger deutlich westlich dominierten Allianzen und Institutionen betrachten. "Die Aufnahme von frischem Blut wird der BRICS-Zusammenarbeit neue Vitalität verleihen und den Einfluss der BRICS-Staaten erhöhen", hatte der chinesische Staatschef Xi Jing bereits im vergangenen Jahr bei einem Treffen der Gruppe erklärt.
Ein möglicher Beitritt Saudi-Arabiens könnte dem Land eine Vielzahl möglicher Partnerschaften und intensivierter Handelsbeziehungen bescheren. Zugleich würde dieser Block - bereits jetzt hat er einen Anteil von 30 Prozent des Öl- und 22 Prozent des Gasverbrauchs weltweit - als Gegengewicht zum westlichen Energiemarkt wachsen.
Ein Beitritt zur BRICS-Gruppe wäre für Saudi-Arabien auch eine politische Herausforderung. Sollte sich die Konkurrenz zwischen dem westlichen und einem womöglich sich abzeichnenden östlichen Machtblock um Russland und China herum verschärfen, hätte Saudi-Arabien gute Verbindungen zu beiden Seiten. Immer deutlicher scheint, dass es sich selbst keinem "Lager" zuzuordnen gedenkt, sondern pragmatisch auf breite Streuung seiner außen- und wirtschaftspolitischen Beziehungen setzt. "Angesichts der zunehmenden Spaltung der Weltwirtschaft könnte Saudi-Arabien dann als gemeinsamer Freund eine zentrale Rolle spielen, um die Gräben zwischen den Blöcken zu verringern", heißt es denn auch in einer Analyse des Fachmagazins Modern Diplomacy.
Von Venezuela bis Israel
Ein weiterer Hinweis auf die Politik Saudi-Arabiens, nach vielen Seiten gute Kontakte zu pflegen und sich nicht auf eine Partnerschaft festlegen zu lassen, war auch der Besuch des autoritär regierenden venezolanischen Präsidenten Nicolas Maduro in Riad, nur kurz vor dem Eintreffen Blinkens. Auch durch den Empfang des Venezolaners demonstriere Saudi-Arabien, dass es seine Außenpolitik nach eigenen Kriterien gestaltet. Dass Saudi-Arabien dabei aber auch seine Beziehungen zur westlichen Welt weiterhin pflegen will, zeigt sich nicht zuletzt in seinem Verhältnis zu Israel. Auch wenn das Land die Normalisierung seiner Beziehungen zum jüdischen Staat anders als einige seiner Nachbarn bisher nicht offiziell besiegelt hat, setzt es doch auf ein gutes Verhältnis zu diesem - trotz der kürzlichen Annäherung an Iran, der Israel als Erzfeind betrachtet und immer wieder dessen "Vernichtung" propagiert. Auch dabei verfolgt Riad konkrete Interessen. So würde man mit Hilfe der USA gerne ein angeblich ausschließlich zivilen Zwecken dienendes Atomkraftwerk errichten - ein Ansinnen, dem die USA freilich kaum ohne grundsätzliche Zustimmung aus Israel zustimmen dürften, dessen Sicherheitsinteresse dadurch tangiert sein könnten.
Um eine israelische Zustimmung zu befördern, hat Saudi-Arabien offenbar bereits im Bereich Kultur und Bildung vorgelegt und saudische Schulbücher weitgehend von anti-israelischen oder anti-jüdischen Passagen befreit. Das in Großbritannien ansässige Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education (Impact-se), das sich unter anderem mit der Frage antisemitischer Strömungen in Schulbüchern weltweit und insbesondere in islamisch geprägten Ländern befasst, bescheinigte Saudi-Arabien im Mai dieses Jahres, die Unterrichtsmaterialien entsprechend überarbeitet zu haben. "Problematische Beispiele" im Hinblick auf Juden und Christen seien entfernt worden, so Impact-se.