Das Virus rüttelt an den Staatsfundamenten
21. April 2020Saudi-Arabien ringt mit der Corona-Krise, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zusammen mit den anderen Mitgliedsstaaten des Ölförderkartells Opec+ hatte sich das Königreich Mitte April auf eine drastische Reduzierung der Fördermengen geeinigt. In den Monaten Mai und Juni sollen diese um 9,7 Millionen Barrel pro Tag zurückgehen, das entspricht einem Anteil von zehn Prozent der bisherigen Fördermenge - die höchste von der Organisation jemals vorgenommene Kürzung.
Dennoch haben die Opec-Staaten Schwierigkeiten, das Erdöl abzusetzen. Denn aufgrund der Corona-Krise ist der globale Verbrauch massiv - um bis zu 30 Prozent - zurückgegangen. Die Abnehmerländer verfügen nun über keine weiteren Lagerkapazitäten mehr. Da in dieser Situation niemand kauft, fällt der Rohölpreis weiter. Am Montagabend kippte der Preis der amerikanischen Leichtölmarke WTI gar ins Negative: Das Barrel kostete knapp minus 40 Dollar. In anderen Worten: Ölvorräte verursachen ihren Besitzer seitdem Kosten. So wird sich auch Saudi-Arabien trotz des zuvor ausgefochtenen Preiskriegs mit Russland auf massiv gefallene Einnahmen einstellen müssen.
Rapide steigende Infektionszahlen
Die Preiskrise kommt zu einer Zeit, da das Land sich auch steigenden Zahlen mit dem Coronavirus infizierter Bürger gegenübersieht. Am Dienstag vermeldete die Johns-Hopkins-University knapp 10.500 Infektionsfälle. 103 Einwohner sind an dem Virus gestorben. Besonders beunruhigend: Die Zahl der Infektionen steigt rasch. Seit Mitte des Monats geht die Kurve steil nach oben, mit noch einmal erhöhter Steigerung während der letzten vier Tage. Noch am 17. April lag die Zahl der Infizierten bei 7142 Personen - ein Drittel weniger als vier Tage später.
Unter den Betroffenen sind einem Bericht der New York Times zufolge auch 150 Mitglieder der Königsfamilie. Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) soll sich in Begleitung zahlreicher Minister nach Dschidda am Roten Meer zurückgezogen haben. Dass die Pandemie auch die Königsfamilie erreicht hat, könnte der Zeitung zufolge ein Grund für die sehr früh vollzogenen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit sein. Bereits Ende Februar hatte das Land die Grenzen für Wallfahrten nach Mekka und Medina geschlossen. Das Königreich rät Pilgern davon ab, sich für die diesjährige Hadsch, die große Pilgerfahrt nach Mekka, vorzubereiten.
Ungewisse Lage der Gastarbeiter
Zudem gilt in mehreren Städten des Landes, darunter auch Riad, eine Ausgangssperre rund um die Uhr. Landesweit gilt eine nächtliche Ausgangssperre von 15 bis 6 Uhr. Reisen zwischen den Provinzen sind in ganz Saudi-Arabien ebenso wie das Betreten und Verlassen der Städte grundsätzlich nicht erlaubt.
Doch auch so ist das Coronavirus nicht gebannt. Als gefährliche Infektionsherde gelten die beengten und dicht belegten Unterkünfte der bis zu neun Millionen im Lande lebenden Gastarbeiter. Einige saudische Firmen beschäftigen diese nun nicht weiter und zahlen ihnen auch keinen Lohn mehr. Das Schicksal dieser Menschen ist ungewiss. Ähnlich ist die Lage der Gastarbeiter auch in den anderen Golfstaaten. Laut internationaler Arbeitsorganisation (ILO) leben in den Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) rund 35 Millionen Arbeitsmigranten. Sie könnten bei der möglichen Ausbreitung des Virus eine bedeutende Rolle spielen.
Religiöser Reformkurs gefährdet
Das Coronavirus stellt auch den von Kronprinz MbS gesteuerten innenpolitischen und kulturellen Kurs infrage. So bedeutet die Pandemie für die Wahhabiten, die dem Königshaus verbundenen Kleriker des Landes, wenn kein Comeback, so doch gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit. Deren Macht gründete lange auf einem Pakt mit dem Königshaus: Dieses verfügte über die politische Macht und sicherte auf dieser Grundlage auch den Wahhabiten erheblichen Einfluss. Die Religionsgelehrten nutzten diesen Einfluss umgekehrt, um die Herrschaft der Familie Saud religiös zu legitimieren.
Die an der London School of Economics lehrende Religionsanthropologin Madawi Al-Rasheed illustriert den Einfluss der Wahhabiten durch eine Zahl: Allein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätten sie mehr als 30.000 Fatwas, religiöse Rechtsurteile also, erlassen. Darin bezogen sie Stellung zu allen nur denkbaren Fragen des täglichen Lebens. Als "Verzauberung der Welt" bezeichnet Al-Rasheed in ihrem Buch "Contesting the Saudi State" den nie versiegenden Fluss neuer Fatwas. Diese verfolgten einen konkreten Zweck: Sie lenkten die Aufmerksamkeit der Menschen ganz auf die Religion. Ohne Unterlass mit der Frage beschäftigt, ob sie ein den religiösen Vorschriften entsprechendes Leben führten, bliebe für weiterführende Fragen - auch politische - kaum Aufmerksamkeit übrig.
Die Vision 2030
Doch im Rahmen seiner "Vision 2030" hat Kronprinz MbS den Einfluss der Wahhabiten konsequent zurückgedrängt. Das ehrgeizige Programm des Prinzen soll das Königreich auf jene Zeit vorbereiten, in der die Einnahmen durch das Erdöl nicht mehr so üppig fließen. Im Februar dieses Jahres hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) darauf hingewiesen, dass der Reichtum des Landes in den kommenden 15 bis 20 Jahren aufgebraucht sein könnte.
Der gefallene Ölpreis im Verbund mit der Corona-Epidemie sei für die "Vision 2030" kurzfristig ein herber Rückschlag, sagt Stephan Roll, Forschungsgruppenleiter "Naher / Mittlerer Osten und Afrika" bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Der niedrige, auch mit der Pandemie zusammenhängende Ölpreis werde definitiv zu geringeren Einnahmen führen. Vor allem werde auch der geplante weitere Börsengang von Saudi Aramco unter den jetzigen Bedingungen unrealistisch. "Ein weiterer Verkauf von Aramco-Anteilen sollte aber Geld für Großprojekte locker machen. Hinzu kommt allerdings, dass die Hadsch ausfallen wird - eine weitere, wichtige Einnahmequelle des Königreichs."
Rückkehr der Wahhabiten?
Zu der nötigen Anpassungsleistung der "Vision 2030" gehört auch, den strengen Wahhabismus - die Staatsreligion Königreichs - zumindest in Teilen zu mäßigen. Dem Prinzen scheint bewusst, dass es insbesondere in den westlichen Ländern - sie sind wichtige Handelspartner des Königreichs - erhebliche Vorbehalte gegen die ultrakonservative Form des sunnitischen Islam gibt. Das Image eines modernen, weltoffenen Staates spielt bei Ausbau und Vertiefung der Handelsbeziehungen, aber auch der politischen und kulturellen Beziehungen zum Westen eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Doch nun scheint die Corona-Pandemie den Theologen wieder zuzuspielen. So hatte Anfang April der Theologe Abdulla bin Mohammed al-Mutlaq, Mitglied des nationalen Gelehrtenausschusses und Berater des Königshauses, in einer vom Staatsfernsehen übertragenen Sendung auf die Frage einer wegen des Coronavirus besorgten Bürgerin erklärt, wenn sie fürchte, sich durch ihren Ehemann anzustecken, habe sie jedes Recht, ihn des Ehebettes zu verweisen.
In Zeiten, in denen sehr viele Bürger wegen der Pandemie verunsichert sind, gelten die Kleriker dem Königshaus offenbar als bedeutende Multiplikatoren zur Verbreitung der Abstandsregeln. In kurzen, von Regierungsbehörden produzierten Videos ermutigen sie die Bevölkerung, die Abstandsregeln einzuhalten. Bevor er sich in einem dieser Videos an die Zuschauer wandte, zeigte einer der Gelehrten, wie man ein Desinfektionsmittel richtig benutzt. Wenn der Prophet Mohammed habe niesen müssen, erfuhr das Publikum, habe er sich entweder eine Hand oder ein Tuch vor das Gesicht gehalten.
Krise könnte das Land schwächen
Die doppelte Herausforderung von niedrigem Erdölpreis und Corona-Pandemie stelle für Saudi-Arabien ein politisches und ökonomisches Risiko dar, sagt Stephan Roll von der SWP. Das hänge vor allem mit der Regierungsführung des Königreichs zusammen. "Da herrscht sehr viel Unberechenbarkeit. Es gibt eine Tendenz zu Ad-hoc-Entscheidungen. Zudem wird das impulsive Machtzentrum nicht kontrolliert. All dies könnte bedeuten, dass das Land wirtschaftlich eher geschwächt aus der Krise hervorgeht."
Zu kämpfen mit der Corona-Pandemie habe indessen nicht nur Saudi-Arabien, sagt der jordanische Rohölmarkt-Experte Khaled Al-Zubaidi im Gespräch mit der DW. Die Golfstaaten im Allgemeinen seien betroffen. In mehreren Ländern könne es zu verminderten Einnahmen und Defiziten kommen. Diese könnte dazu führen, dass die betroffenen Staaten ihre gesamten infrastrukturellen Projekte neu ausrichten.