"Sawtschenko unschuldig"
4. März 2015Deutsche Welle: Wie fühlt sich Nadja Sawtschenko?
Ilja Nowikow: Ihre Stimmung ist kämpferisch. Mit ihrem Hungerstreik will Nadja allen zeigen, dass weder die Ermittler noch das Gericht entscheiden, wie lange sie im Gefängnis bleibt. Der aktive Widerstand und der Wunsch, sich nicht den Ermittlern und dem Gericht zu unterwerfen, sind für sie wichtiger als das eigene Befinden und die Gesundheit. Aber sie ist ziemlich geschwächt. Die Situation ist ernst. Jeden Augenblick kann bei ihr ein inneres Organ versagen, und dann bricht der ganze Körper zusammen. Vor zwei Wochen ging eine Meldung durch die Medien, dass sie sich angeblich parallel zum Hungerstreik ernährt. Das stimmt aber nicht. Jetzt wiegt sie weniger als 55 Kilogramm. Nadja hatte mehrere Ohnmachtsanfälle. Sie könnte in ein Koma fallen, aus dem sie nicht mehr erwacht. Bei jedem Treffen bitte ich sie, den Hungerstreik zu beenden.
Wie bauen Sie Ihre Verteidigung auf? Setzen Sie auf Freispruch?
Wir wollen keinen Freispruch. Wir wollen, dass die Sache noch vorgerichtlich beendet wird. Es gibt eine ganze Reihe von Problemen. Vor allem ist das Verfahren zu umfangreich. Bereits befragt sind 17.000 Opfer und 70.000 Zeugen. Eigentlich gibt es den Fall Sawtschenko als solchen gar nicht. Es gibt keine Akte mit dem Familiennamen Sawtschenko. Es gibt nur ein riesiges Dossier des Ermittlungsausschusses, in das Unterlagen kommen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen im Osten der Ukraine stehen. Das sind Strafsachen zu Vorfällen außerhalb Russlands, die unter dem Vorwand eingeleitet wurden, dass die Verbrechen gegen die Interessen der Russischen Föderation oder gegen russische Bürger gerichtet gewesen seien. Ich möchte daran erinnern, dass während des Beschusses von Stellungen der Aufständischen in Luhansk, für den Sawtschenko verantwortlich gemacht wird, zehn Menschen getötet wurden. Davon waren zwei russische Staatsbürger. Wegen dieses Vorfalls wurde ein Strafverfahren gegen Sawtschenko eingeleitet, und es wurde mit dem einen großen Dossier als Teil dessen verbunden. Die Regeln der russischen Justiz erlauben nicht, Sawtschenkos Sache getrennt zu prüfen. Sie muss vor Gericht als Ganzes behandelt werden. Aber welches Gericht ist in der Lage, einen Fall zu prüfen, in dem es mehrere tausend Aktenbände gibt und 17.000 Opfer? Daher fordern wir, dass die Sache noch vor einem Gerichtsprozess eingestellt wird.
Halten Sie das für möglich?
Dazu müsste der Ermittlungsausschuss selbst seine Fehler eingestehen. Sawtschenko hat ein Alibi. Im Verfahren, das von der Ukraine wegen der Entführung Sawtschenkos eingeleitet wurde, liegen Daten über die Ortung von Nadjas Mobiltelefon vor. Sie konnte sich während des Beschusses am 17. Juni gar nicht an jenem Kontrollposten befunden haben, wo Russen ums Leben kamen. Sie war an diesem Morgen um etwa 10 Uhr bereits in Gefangenschaft in Luhansk. Aus Aussagen eines Überlebenden geht hervor, dass ein russisches Fernsehteam um 11.30 Uhr am Kontrollposten eingetroffen war. Wir haben diese Aussagen veröffentlicht, damit die Menschen sich selbst davon überzeugen, dass Sawtschenko unschuldig ist.
Haben die Minsker Vereinbarungen den Fall Sawtschenko irgendwie beeinflusst? Man hatte ja auch über die Amnestie von Kriegsgefangenen gesprochen.
Die ukrainische Delegation hat uns bestätigt, dass Sawtschenko unter die Amnestie fällt. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte erklärt, er habe persönlich mit Putin über Sawtschenko gesprochen, und Putin habe gesagt, Sawtschenko werde bald freikommen. Aber dann hieß es in Russland, die Minsker Vereinbarungen würden nicht für Sawtschenko gelten. Nicht geholfen haben Putins Gespräche mit ausländischen Politikern, vor allem mit Angela Merkel, die ihn persönlich gebeten hatte, Sawtschenko freizulassen.
Was muss passieren, damit Sawtschenko freikommt?
In Russland gibt es zwei Personen, die Sawtschenko freilassen können. Die erste ist General Bastrykin, Chef des russischen Ermittlungsausschusses. Er kann seine Untergebenen auf ihre Fehler hinweisen. Der zweite Mann ist Wladimir Putin. Er hat zwar keine formellen Befugnisse, sich in Strafsachen einzumischen. Aber wir wissen, dass ein Wort genügen würde, um die Sache in eine andere Richtung zu lenken.
Warum hat sich gerade Sawtschenko in der Rolle einer Angeklagten wiedergefunden?
Als der Tod zweier russischer Journalisten bekannt wurde, begann in den russischen Medien eine Kampagne über vorsätzlichen Mord, und es wurde gefordert, die Schuldigen zu finden. Von den sieben ukrainischen Militärs, die damals in Luhansk in Gefangenschaft waren, war Sawtschenko die einzige Frau und der einzige Offizier. Dann entschied ein gewisser Alexander Popow, ein russischer Staatsbürger, der in der "Luhansker Volksrepublik" aktiv war, Sawtschenko müsse nach Russland gebracht und dort des Mordes an den Journalisten angeklagt werden. Unter Druck gesetzt, sollte sie ihre Schuld zugeben und sagen, was für unmenschliche Methoden die ukrainischen Streitkräfte anwenden würden. Die Idee war nicht schlecht, aber man hat dafür die falsche Person genommen. Man dachte, eine Frau könne man leichter unter Druck setzen.
Warum wird sie in Untersuchungshaft festgehalten?
Darin besteht die verrückte Logik im Vorgehen der russischen Ermittlung. Sobald eine Person verhaftet ist, würde deren Freilassung bedeuten, dass man Fehler zugibt. Und der Ermittlungsausschuss braucht keine Mitarbeiter, die Fehler zugeben. Aber die formale Immunität Sawtschenkos als Abgeordnete des Obersten Rates der Ukraine und als Botschafterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates berechtigt Russland nicht, sie in Haft zu halten. Wir versuchen, die Weltgemeinschaft zu überzeugen, die sofortige Freilassung Sawtschenkos aus der Haft zu erreichen, bevor etwas Irreparables wegen ihres Hungerstreiks geschieht.
Ilja Nowikow ist einer der Anwälte der in Russland inhaftierten ukrainischen Kampfpilotin Nadja Sawtschenko.