Schach-WM: Ding und Gukesh machen es spannend
6. Dezember 2024"Keiner von uns beiden ist klar besser in diesem Match, also ist es sehr schwer, eine Partie zu gewinnen." Schach-Weltmeister Ding Liren bringt es in der Pressekonferenz nach der neunten Runde des WM-Duells in Singapur auf den Punkt. Nach fast zwei Wochen Schach auf hohem Niveau steht es 4,5:4,5. Jeder der Spieler konnte eine Partie gewinnen, siebenmal einigten sich der Chinese und sein Herausforderer Dommaraju Gukesh am Ende dann doch auf Remis - zumeist nachdem es auf dem Brett heftig hin und her gegangen war.
"Wir haben beide Kampfgeist gezeigt und unterhaltsames Schach gespielt. Das werden noch fünf spannende Runden", sagte der junge Inder nach der neunten Partie. Spätestens am 13. Dezember wird das Match entschieden. Sollte es nach 14 Partien immer noch keinen Sieger geben, spielen die beiden Schnell- oder sogar Blitzschach um den Titel.
Ding zeigt Gukesh die Grenzen auf
Schon jetzt ist klar: Der von vielen Experten erwartete - oder sogar befürchtete - Durchmarsch des indischen Jungstars bei der Schach-WM ist bisher ausgeblieben. "Ich bin schon etwas überrascht", räumt etwa Peter Heine Nielsen ein. Der dänische Großmeister war in den letzten Jahren als Trainer der Ex-Weltmeister Viswanathan Anand (Indien) und Magnus Carlsen (Norwegen) bei vielen WM-Matches dabei.
"Gukesh hat bisher nicht sein bestes Schach gespielt. Oder besser: Ding hat das nicht zugelassen", sagt Nielsen der DW. Dabei war im Vorfeld vor allem die schlechte mentale Verfassung des Chinesen ein Thema gewesen. Ding hatte seit seinem Titelgewinn Anfang 2023 kaum Partien gewonnen und offen über seine psychischen Probleme gesprochen.
Doch schon in der ersten Partie zeigte der 32-jährige Weltmeister aus China seinem jungen Konkurrenten die Grenzen auf. Mit Schwarz - was normalerweise ein kleiner Nachteil ist - überraschte der chinesische Routinier seinen Gegner in den ersten Zügen mit der auf WM-Level eher unüblichen "Französischen Verteidigung" und überspielte in der Folge Gukesh überzeugend.
Zwei Runden später schlug der in seiner Heimat als Superstar gefeierte Inder dann zurück: Ding dachte zu lange nach, rutschte in eine schlechte Stellung und schaffte es am Ende nicht, 40 Züge in der vorgesehenen Zeit von zwei Stunden zu absolvieren. Ausgleich in Singapur.
Überraschungen bei den ersten Zügen
Trotz der dann folgenden Remis-Serie verfolgt die deutsche Nationalspielerin Lara Schulze die WM mit großer Spannung: "Es ist aber ein bisschen schade, dass Ding in einigen leicht vorteilhaften Stellungen kein Risiko eingegangen ist und eher ein Unentschieden angesteuert hat", findet die 22-jährige Schulze, die die WM-Partien in ihrem YouTube-Kanal kommentiert.
In ihren Videos geht es dann zum Beispiel auch um die Vorbereitung der beiden Kontrahenten. Die ersten Züge - die sogenannten "Eröffnungen" - werden in den Wochen vor dem Match von den Trainer-Teams und ihren Computern ausgearbeitet. Es gehe darum, den Gegner möglichst schon am Anfang zum Nachdenken zu bringen und Fehler zu provozieren. "Man möchte vermeiden, dass man in eine Variante reinläuft, die der Gegner bis zum 30. Zug in der Vorbereitung auf dem Brett hatte", erklärt die Nationalspielerin im Gespräch mit der DW.
Zumindest Ding hatte schon in einigen Partien früh mit Überraschungen zu kämpfen. In der spektakulären siebten Partie kam der Chinese so schnell in eine nachteilige Position, schaffte es dann aber noch, sich mit trickreichen Verteidigungszügen ins Remis zu retten.
Er habe nur drei Wochen Vorbereitungszeit gehabt, räumte der Chinese ein. Vielleicht war das nicht genug Zeit, um möglichst viele der potenziellen Ideen des indischen Teams zu neutralisieren. "Die Eröffnungsvorbereitung bei Weltmeisterschaften hat sich in den letzten Jahren sehr weiterentwickelt", erklärt Peter Heine Nielsen. "Ding versucht immer wieder, mit etwas unorthodoxen, aber gerade noch spielbaren Ideen seinen Gegner zu überraschen. Das funktioniert aber nur noch für eine Partie." Inzwischen seien die mit Künstlicher Intelligenz (KI) ausgerüsteten Computer so stark, dass es kaum noch neue Ideen gebe.
Zufallsschach statt Computer-Vorbereitung?
In der Schach-Szene werden inzwischen auch wegen der nahezu perfekten KI-unterstützten Vorbereitung neue Schach-Varianten ausprobiert. Der Hamburger Millionär und Schach-Sponsor Jan Henric Buettner war kurz vor dem Start der WM mit einem sogenannten "Freestyle"-Event in Singapur vor Ort. Ex-Weltmeister Magnus Carlsen siegte dabei gegen die Nummer zwei der Weltrangliste, den US-Amerikaner Fabiano Caruana. Beim "Freestyle-Schach", auch als "Fischer Random" bekannt, wird vor der Partie die Ausgangsstellung ausgelost. Auswendig gelernte Eröffnungszüge spielen dann keine Rolle mehr.
Nationalspielerin Lara Schulze glaubt aber eher nicht, dass das die Zukunft des Schachsports ist. Gerade für die vielen Schachinteressierten, die keine Profis sind, sei "Freestyle" doch etwas verwirrend: "Da versteht man am Anfang gar nicht, was los ist. Das ist nicht zuschauerfreundlich", meint Schulze.
Ding Liren und Dommaraju Gukesh versuchen derweil in Singapur, sich im klassischen Schach doch noch gegenseitig auszutricksen. "Je länger das Match knapp ist, desto wichtiger wird die psychische Stabilität der Spieler", weiß Peter Heine Nielsen. Trotz der Fragezeichen hinter Dings psychischer Verfassung glaubt der dänische Spitzentrainer, dass Ding eine gute Chance gegen den eher unbekümmerten, aber mit erst 18 Jahren vergleichsweise unerfahrenen Gukesh hat: "Ding hat beim letzten WM-Kampf bewiesen, dass er doch sehr nervenstark ist, wenn der Druck steigt."
Lara Schulze sieht das ähnlich, aber ein wenig hofft sie doch auf einen Sieg des Jungstars aus Indien. Kürzlich habe sie bei einem Turnier ein Foto mit Gukesh ergattert. Seitdem drücke sie dem Herausforderer die Daumen, erzählt Schulze. "Dann habe ich schon einmal ein Selfie mit dem Weltmeister!"