Schiffsunglück: War die griechische Küstenwache schuld?
11. Juli 2023Knapp einen Monat nach dem verheerenden Schiffsunglück vor der griechischen Küste warten noch immer viele Angehörige der Passagiere auf Aufklärung und Gewissheit. Der 32-jährige Ali Shan aus Pakistan hofft, dass sein Neffe das Unglück überlebt hat, bei dem Hunderte ums Leben gekommen sind. Die griechischen Behörden hätten eine DNA-Probe von ihm genommen und seitdem warte er auf Antworten. "Sie sagen immer nur, ich müsse warten und nichts weiter", sagt er der DW. "In Europa redet man so viel von Menschlichkeit. Sind wir denn nicht alle Menschen?" Ali Shan ist sicher: Es hätten viel mehr Menschen gerettet werden können. Der mit 700 Menschen völlig überladene Fischkutter Andriana war am 14. Juni vor Pylos im Ionischen Meer gesunken und hatte die meisten Passagiere mit in den Tod gerissen. Nur 104 von ihnen konnten gerettet werden.
Eine internationale Medienrecherche, durchgeführt von der englischen Tageszeitung Guardian, dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem griechischen Investigativmedium Solomon, hat mit 26 der Überlebenden gesprochen, Gerichtsdokumente gesichtet, Satellitendaten und Logbucheinträge verglichen sowie Videos ausgewertet, die von Handelsschiffen aus gedreht wurden. Daraus hat die Berliner Rechercheagentur Forensis eine Computersimulation der letzten Stunden vor dem Unglück erstellt, die große Zweifel an der offiziellen Darstellung der griechischen Küstenwache weckt.
Die Recherche zeigt, dass das Schiff mit den Migranten stundenlang umherirrte und dann, kurz nach dem Zusammentreffen mit dem Boot 920 der griechischen Küstenwache, Kurs nach Westen nahm. Überlebende teilten dem Recherchekonsortium mit, die griechische Küstenwache habe sie dorthin geleitet und versichert, in Italien würde ein Boot der italienischen Küstenwache warten. Die griechische Küstenwache gab an, das Boot sei auf eigenen Wunsch weiter Richtung Italien gefahren. Eine Recherche der BBC vom 18. Juni, bei der über eine Webseite die Bewegungen von Schiffen analysiert wurden, hatte die offizielle Darstellung der griechischen Küstenwache bereits in Frage gestellt.
Wie und wieso kenterte der Kutter?
Noch belastender sind die Aussagen von Überlebenden zum Kentern des Kutters. Sie geben an, dass die Andriana erst gekentert sei, als die griechische Küstenwache versucht habe, das völlig überladene und manövrierunfähige Boot mit einem Seil abzuschleppen. Zwei der Überlebenden, mit denen die Journalisten und Journalistinnen sprechen konnten, hatten beschrieben, wie die griechische Küstenwache das Boot an einem Tau befestigt hatte. Andere Überlebende, die sich unter Deck befanden, berichteten über eine heftige Zugbewegung, die den Abschleppversuch erklären würde. Die griechische Küstenwache wies die Vorwürfe zurück und erklärte, sie habe dem überfüllten Boot Hilfe angeboten und das Tau rübergereicht. Sie habe es aber nicht abgeschleppt und somit zum Kentern gebracht.
Fraglich ist, warum die griechische Küstenwache drei Unterstützungsangebote der europäischen Grenzschutzagentur Frontex einfach ignorierte und warum die Operation nicht gefilmt wurde. Das Boot der Küstenwache ist zu 90 Prozent von der EU finanziert und mit Kameras ausgerüstet, die, so die Ergebnisse der investigativen Recherche, wenig Bedienung benötigten. Die griechische Küstenwache gibt an, man hätte sich auf die Rettung der Menschen und nicht auf das Filmen konzentrieren wollen. Auf Anfrage der DW verwies Frontex auf das laufende Verfahren. Der Vorfall werde vom Grundrechtsbeauftragten untersucht. Auch zu den nicht genutzten Kameras wollte man sich nicht äußern.
EU-Kommission fordert transparentes Verfahren
In Griechenland wird der Vorfall von der Staatsanwaltschaft untersucht. Der neue Migrationsminister, Dimitris Kairidis, wies die Vorwürfe zurück. Es sei die griechische Küstenwache gewesen, die Menschen gerettet habe, und nicht etwa NGOs, ausländische Journalisten oder EU-Abgeordnete. "Wir sind humanitär, aber wir sind nicht naiv", so Kairidis.
Seit Jahren berichten Medien und internationale Hilfsorganisationen über illegale Abschiebungen von Migranten durch griechische Behörden. Viele fordern einen unabhängigen Überwachungsmechanismus an den EU-Außengrenzen, auch weil es den in Griechenland zuständigen Untersuchungsinstitutionen an Unabhängigkeit fehle.
Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, kennt diese Probleme nur allzu gut. Trotz zahlreicher Indizien und Beweise für illegales Verhalten der griechischen Behörden in den letzten Jahren, hat sie bisher auf ein mögliches Vertragsverletzungsverfahren oder eine öffentliche Ermahnung Athens verzichtet. Auch nach dem Schiffsunglück verweist ihr Pressebüro auf die juristische Zuständigkeit Griechenlands zur Klärung des Vorfalls. Im Gespräch mit den zuständigen Ministern in Athen hätte sie "vollständige Klarheit gefordert", um durch eine "transparente Untersuchung" festzustellen, was passiert sei, um "etwaiges Fehlverhalten strafrechtlich zu verfolgen", teilte ihr Büro auf Anfrage der DW mit.
Mehr Verantwortung der EU-Mitgliedsstaaten
Für den grünen EU-Parlamentarier Erik Marquardt sind solcherlei Aussagen vor allem Lippenbekenntnisse. Er fordert ein härteres Durchgreifen der EU-Kommission und der EU-Mitgliedsstaaten. Außer Trauerbekundungen habe es keine großen Reaktionen gegeben. Auch zeige man wenig Interesse daran, die vielen offenen Fragen bezüglich der griechischen Küstenwache und ihrer Rolle bei dem Vorfall zu klären: "Wie soll Demokratie funktionieren, wenn EU-Mitgliedsstaaten bei solchen Vorfällen für alle ersichtlich einfach lügen und niemand etwas sagt?", so Marquardt im Interview mit der DW.
Wenn die Politik jetzt davor zurückscheue, das Fehlverhalten von europäischen Institutionen klar zu benennen, werde das dem Ernst der Lage nicht gerecht. Für Marquardt geht es dabei nicht nur darum, die Rechte von Asylsuchenden zu wahren, sondern die Rechtsstaatlichkeit in der EU an sich zu schützen. "Ein Land, in dem bestimmte Gruppen keine Rechte haben, wird irgendwann zu einem Land, in dem niemand mehr Zugang zu Recht hat", unterstreicht der Grünen-Politiker. Am Ende seien es dann nicht mehr die Gesetze und die Parlamente, die über Recht und Ordnung entscheiden, sondern allein die Machthaber.