Schiiten-Milizen mobilisieren gegen IS
18. Dezember 2014Auf der Tigris-Brücke prallen Welten aufeinander: Ein Militärkonvoi wird an der Auffahrt gestoppt. Schusswechsel, 15 Minuten lang. Von der anderen Seite nähert sich eine Hochzeitsgesellschaft dem Hotel im Bagdader Stadtteil Mansour, in dem traditionell die frisch Vermählten ihre Hochzeitsnacht verbringen. Laut künden Trompeten von der Freude des bevorstehenden Ereignisses und übertönen die Gewehrsalven. Die Realität der irakischen Hauptstadt zeigt sich auf dieser Brücke: Krieg und Frieden, Freud und Leid - alles gleichzeitig.
"Alle wollen die Straße beherrschen", kommentiert der Manager des Hotels, was sich vor den Augen der Gäste abspielt. Gerade fährt die Hochzeitsgesellschaft mit viel Getöse in den Hof ein. Der Militärkonvoi hat sich inzwischen den Weg über die Brücke freigeschossen und ist auf der anderen Seite angekommen. "Es herrscht kein Recht und Gesetz derzeit in Bagdad", sagt der Hotel-Manager. Wenn man an einem Kontrollpunkt vorbeikomme, wisse man oft nicht, von welcher Miliz er unterhalten werde. Bewaffnete Gruppen aller Art dominierten das Stadtbild. Das mache Angst.
Gewalt wird radikaler
Einer, der Angst macht, heißt Maschid Ahmed al-Sudani. Er sitzt an einem Schreibtisch in einem karg eingerichteten Zimmer auf der Seite des Tigris, auf die der Militärkonvoi gefahren ist. Das Haus liegt im Stadtteil Karrada und ist nur einen Steinwurf von dem Platz entfernt, wo der Sturz der Bronze-Statue Saddam Husseins Anfang April 2003 das Ende der Gewaltherrschaft besiegelte.
Doch die Gewalt im Irak hörte damit nicht auf. Viele Iraker meinen, es sei danach noch schlimmer geworden. Al-Sudani meint das auch. Schon 2006/07 habe er gegen Al Kaida gekämpft, jetzt eben gegen den Islamischen Staat (IS). Doch dieses Mal seien der Kampf und auch die Atmosphäre viel radikaler. "Damals war der Terror lokal", sagt er. Iraker hätten gegen die Besatzer gebombt. "Jetzt ist der Terror international. Es ist schlimm, dass deutsche und französische Dschihadisten uns umbringen."
Vor vier Jahren hat al-Sudani die irakische Armee verlassen, ist pensioniert worden. Nun steht er einer Miliz vor, die sich "Sucur" nennt und eine der sechs Hisbollah-Gruppen bildet, die im Irak derzeit operieren. Hisbollah im Irak habe nichts mit gleichnamigen libanesischen Organisation zu tun, hört man auf Nachfrage in Sudanis Büro. Gemein hätten sie nur, dass sie Schiiten seien. Und doch erhärten sich Gerüchte, dass die libanesische Hisbollah nicht nur Kämpfer nach Syrien, sondern seit Kurzem auch in den Irak schickt. Am Schreibtisch des pensionierten Brigadegenerals scheint aber noch kein Libanese angekommen zu sein. Dort wird ausschließlich Irakisch-Arabisch gesprochen.
Rekrutierung per Megafon
Es war der Aufruf des schiitischen Großajatollahs Ali al-Sistani in Nadjaf, der junge Männer wie Mustafa und Reith zu Kämpfern werden ließ. Die beiden Freunde, 25 und 22 Jahre alt, kamen aus Kerbela nach Bagdad und schlossen sich al-Sudanis Sucur-Miliz an. Nach zwei Monaten intensiver Ausbildung schickte sie der Brigadegeneral a.D. zum Kämpfen in den Nordirak nach Amerli, wo schiitische Turkmenen 80 Tage lang vom IS belagert wurden und zu verhungern drohten. Mitte September konnte die Stadt in der Nähe von Tikrit befreit werden. Jetzt soll Mustafa in die an Bagdad angrenzende Provinz Dijala, wo ebenfalls heftige Gefechte toben. Reith hat sich am Bein verletzt und muss seine Verwundung erst einmal auskurieren. Mustafa steht stramm, als Kommandeur Maschid ihm letzte Anweisungen mit auf den Weg gibt. Zwischen 3.200 und 3.600 Mann habe er unter seinem Kommando, sagt al-Sudani. Sie würden je nach Bedarf an verschiedenen Orten eingesetzt.
Als IS-Kämpfer im Juni in einer Blitzaktion weite Teile im Norden des Landes unter ihre Kontrolle brachten, löste der Aufruf des Großajatollahs einen Ansturm von Freiwilligen aus, der beispiellos ist für die Geschichte Iraks. Unbestätigte Schätzungen besagen, dass die Zahl der freiwilligen Kämpfer bereits die der regulären irakischen Armee übersteigt. Beim Heranrücken des IS waren tausende reguläre Soldaten desertiert.
Al-Sudani schätzt, dass derzeit etwa 35 unterschiedliche Milizen diese Kämpfer als Freiwillige aufnehmen. "Allein in dieser Woche haben 600 bei uns angeheuert." Fast täglich sieht man auf den Straßen Bagdads neue Poster mit neuen Organisationen, die für einen Kriegseinsatz gegen den Islamischen Staat werben. Freiwilligen Rekruten fahren im Konvoi durch Stadtteile mit mehrheitlich schiitischer Bevölkerung und rufen mit Megafonen dazu auf, sich ebenfalls zu melden.
Weniger Geld für Schiiten-Milizen
Über eine Milliarde US-Dollar sind nach Angaben des neuen Finanzministers Hoshiar Zebari seit Juni an schiitische Milizen geflossen. Das Geld sei planlos verteilt worden, die Vorgängerregierung von Nuri Al-Maliki habe darüber nicht Buch geführt. Jetzt stecke der Irak in der Finanzklemme. Für 2015 hat Zebari die Aufstellung eines ordentlichen Haushalts versprochen. Die Einbeziehung der sunnitischen Stämme, die jetzt in Anbar gegen den ebenfalls sunnitisch geprägten IS kämpften, habe dabei oberste Priorität.
Die unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten der schiitischen Söldnerheere dürften demnach bald vorbei sein. Erste Auswirkungen werden bereits aus den Provinzen Anbar und Dijala laut, die nordwestlich und nordöstlich von Bagdad liegen. Dort beklagt sich die Bevölkerung über zunehmende Kriminalität seitens der Milizionäre. "Die sind schlimmer als die Regierungstruppen", sagt der ehemalige Gouverneur von Dijala, Abdullah al-Jubouri. Hätten sie einen Ort vom IS befreit, würden sie sich alles nehmen, was nicht niet- und nagelfest sei. Ähnliche Klagen über die schiitischen Milizionäre hört man in Abu Ghraib, der letzten Stadt der Provinz Anbar vor Bagdad.
In ihrem neuesten Bericht wirft die Menschenrechtsorganisation amnesty international den schiitischen Gruppen sogar Kriegsverbrechen vor. Sie hätten in den vergangenen Monaten Dutzende Sunniten entführt und ermordet. Amnesty dokumentiert Gewalttaten in Bagdad, Samarra und Kirkuk und hat "Dutzende nicht identifizierter Leichen, mit Handschellen gefesselt und mit Schusswunden im Kopf" gefunden. Das ließe ein Muster gezielter Tötungen erkennen, so amnesty.