"Alle denken an Flucht"
23. Juni 2014DW: Herr Professor Schirrmacher, wie geht es den Christen im Irak?
Thomas Schirrmacher: Meinen Sie die, die noch da sind? Oder jene, die auf der Flucht sind?
Sprechen wir über die verblieben Christen...
Die sind natürlich jetzt in Angst und Schrecken. Die meisten von denen, die sich nach dem Krieg wieder angesiedelt haben, oft ja schon nicht in den ursprünglichen Stammgebieten, sind jetzt auf der Flucht in die kurdischen Gebiete. Die kurdischen Gebiete sind prinzipiell viel friedlicher. Auf der anderen Seite sind die Kurden auch nicht glücklich, wenn ihre ohnehin nicht sehr starke kurdische Mehrheit unterlaufen wird. Von daher dürfte es im Irak momentan gar keine Christen mehr geben, die normal in den Alltag hinein leben. Sondern alle überlegen: Fliehen wir oder fliehen wir nicht?
Von welchen Zahlen sprechen wir?
Das ist sehr schwer zu sagen, wie viele Christen noch im Irak sind. Die besten Schätzungen gehen von rund 300.000 Menschen aus.
In den Kurdengebieten, sagen Sie, warten Konflikte. Welche?
Die Kurdengebiete sind schon länger ein idealer Platz für die Christen, weil es dort friedlich und wesentlich rechtsstaatlicher zugeht. Die Kurden haben die Christen empfangen - weil sie einerseits wirtschaftlich stark sind, zum zweiten, weil je mehr Menschen im kurdischen Gebiet leben, desto größer ist ihr politischer Einfluss bis hin in die Strukturen des Irak, die darauf aufbauen, wie viele Menschen wo leben.
Andererseits sind die Kurden in ihrem Gebiet nicht die große Mehrheit. Sie sind zwar mit Abstand das größte Volk dort, aber leben schon jetzt mit vielen anderen Gruppen zusammen. Und gewaltige Zahlen an Flüchtlingen verschieben das natürlich. Da ist die Sorge der Kurden sehr groß, dass sie eines Tages eine Minderheit im eigenen Gebiet sind. Und das macht sich in Feindschaften bemerkbar, die den Christen, die dorthin fliehen, verglichen mit der Lebensgefahr ziemlich egal ist, aber die natürlich auch ihr gefährliches Potential hat.
Befürchten Sie Gewaltausbrüche?
Weniger. Im Kurdengebiet wird prinzipiell auf den - für das Ausland sichtbaren - Unterschied geachtet, dass das Kurdengebiet friedlich und sicher ist. Also wir sprechen hier mehr von Diskriminierung und, ganz praktisch, von der Frage, ob die Christen einen Platz zum Schlafen und Essen finden.
Was können wir von hier aus tun, um der christlichen Restbevölkerung im Irak zu helfen?
Das ist schon deswegen sehr schwierig, weil die Tektonik der umliegenden Länder eine Rolle spielt. Jetzt kam die Nachricht, die ISIS-Truppen hätten die Grenzen zu den Nachbarländern überschritten. Sie versuchen, sich mit dem syrischen Gebiet zu vereinen, sogar über die Grenze zu Jordanien seien sie gegangen. Es ist kaum erklärlich, warum im Libanon noch Ruhe ist. Ich war kürzlich dreimal dort, auch in den Grenzgebieten. Alle warten dort, dass es überschwappt. Die Schwierigkeit ist: Selbst wenn man für den Irak eine Lösung finden würde, bekommt man die Gesamtproblematik nicht in den Griff. Das geht nur, indem man die terroristischen Gruppen wie in einem Krieg bekämpft.
Die Problematik der Christen ist, dass sie eine doppelte Verfolgung erleiden - einerseits, weil sie in den Bürgerkriegsgebieten leben. Anderseits, weil sie selbst in den friedlichen Gebieten diskriminiert werden. Die Gruppe der Christen wird von allen Parteien gleichermaßen angegangen. Deshalb ist sie ganz besonders gefährdet. Und sie weiß nicht, wohin.
Thomas Schirrmacher, Jahrgang 1960, ist reformierter Theologe, Ethiker Religionswissenschaftler und Religionssoziologe. Er ist Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz.