Schlange stehen für Charlie
14. Januar 2015Schon zehn Minuten nach Ladenöffnung gab es am Zeitungskiosk im Pariser Nordbahnhof enttäuschte Gesichter bei den Kunden, die in einer langen Schlange warteten. "Charlie Hebdo", die erste Nummer nach dem Terroranschlag vor einer Woche war ausverkauft. Die Kioskbesitzerin zuckte hilfslos mit Schultern. "Ich habe nur 200 Hefte bekommen und die sind alle weg. Morgen kommen mehr." Und tatsächlich: Charlie Hebdo hat an diesem Mittwoch die Auflage von drei auf fünf Millionen Exemplaren erhöht, aber die Verteilung der Hefte ist logistisch nicht so einfach. "Ich war einfach mal neugierig, nach all dem Wirbel und den gemeinen Anschlägen", meint eine Käuferin, die im Nordbahnhof vor der Fahrt zur Arbeit ein Exemplar ergattert hat. "Sonst habe ich Charlie Hebdo nicht gelesen, aber jetzt sind wir das ja irgendwie alle." Die islamischen Verbände in Frankreich hatten die neue Ausgabe, die einen weinenden Propheten Mohammed auf der Titelseite zeigt, verurteilt, aber die französischen Muslime, die sich beleidigt fühlen könnten, zur Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Nach der Großdemonstration für die Meinungsfreiheit, am vergangenen Sonntag in Paris, ist offene Kritik an "Charlie Hebdo" selten. Ein muslimischer Franzose sagte im Fernsehersender BFM aber, er halte das Heft für eine "Provokation".
"Ich musste weinen"
Auf dem Titelbild der neuen "Charlie Hebdo"-Ausgabe ist Prophet Mohammed zu sehen. Er weint und hält das Schild "Ich bin Charlie", das in den letzten Tagen zum Symbol des Widerstands gegen den Terror wurde. Über Mohammed steht die Schlagzeile: "Alles ist vergeben." Selbst der Prophet weint über die Terroristen, erläutert der Zeichner des Titelbildes, Luz, seine Idee: "Es gab also diese Idee von 'Ich bin Charlie'. Ich habe den weinenden Mohammed gezeichnet. Dann habe ich geschrieben 'Alles ist vergeben'. Dann musste ich auch weinen. Und fertig war die Titelseite!" Luz erzählt, man habe hart gearbeitet, um das Heft rechtzeitig fertig zu stellen. Für Trauer war nicht viel Zeit. Es habe sich immer so angefühlt, als seien die getöteten Freunde noch da. Auch Material und Ideen der getöteten Cartoonisten wurde verwendet, so Chefredakteur Gerard Biard: "In dieser Ausgabe ist niemand gestorben. Sie sind noch da. Sie werden im Heft sein, weil sie immer dabei waren."
Bekenntnis zum Laizismus
Chefredakteur Biard bedankt sich in seinem Leitartikel über die Unterstützung für sein Blatt. Er beklagt aber auch, dass es eines Terroranschlags bedurfte, bis sich die Politik ausdrücklich zum Laizismus, der Trennung von Religion und Staat bekannt habe. "All die vielen anoymen Menschen, all die Politiker, die Medien, die religiösen Würdenträger, die gesagt haben 'Ich bin Charlie', müssen wissen, dass sie damit auch gesagt haben 'Ich bin Laizist'." Ein "Ja, aber..." könne es nach dem Terror gegen den Humor nicht mehr geben, so Biard. Chefredakteur Gerard Biard hatte am Dienstag in einer improvisierten Pressekonferenz angekündigt, dass sein Blatt auch künftig keine Religion verschonen werde. Das Recht auf Gotteslästerung müsse verteidigt werden: "Säkularismus ist nicht nur ein vages Konzept. Es ist ein System von Werten. Wir müssen uns klar sein, dass die Trennung von Staat und Kirche das wichtigste Prinzip unserer Republik ist. Ohne sie sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht möglich."
Es soll gelacht werden
Auf den 16 Seiten der aktuellen Ausgabe machen sich die überlebenden Zeichner und Autoren von "Charlie Hebdo" über das Attentat auf sie lustig, sie kritisieren reisende Jugendliche, die in den Dschihad aufbrechen. "Wo sind denn nun die 70 Jungfrauen", lassen sie einen Dschihadisten fragen, als der im Himmel ankommt. "Die vergnügen sich schon mit den Redakteuren von 'Charlie Hebdo'" ist die Antwort aus der göttlichen Wolke. Aber auch der Papst und das Geschäft mit westlichen Geiseln in Afrika bekommen ihr Fett weg.
Arbeiten unter Polizeischutz
Die "Charlie Hebdo"-Redaktion hat bei den Kollegen der Tageszeitung "Liberation" Unterschlupf gefunden. Andere Medien haben Computer und Geräte gespendet. "Die hatten ja nichts mehr. Die blutverklebten Bleistifte und die Laptops sind am Tatort versiegelt", sagte ein Mitglied der Geschäftsleitung von "Liberation", Pierre Fradidenraich. Das Gebäude der "Liberation", die Druckerei und das Vertriebszentrum werden von der Polizei schwer bewacht. Es herrscht Angst vor weiteren Anschlägen. Zwei islamistische Terroristen hatten vor einer Woche zehn Redaktionsmitglieder und zwei Polizisten erschossen. Ein dritter Terrorist tötete am Freitag vier Geiseln in einem jüdischen Supermarkt und eine Polizistin.
"Nur ein guter Mensch"
Frankreichs Regierung will das Blatt mit rund einer Million Euro unterstützen. Wird die gesamte Auflage, die weltweit Aufsehen erregt, verkauft, hätte die "Charlie Hebdo"-Redaktion so viel eingenommen wie sonst in knapp einem ganzen Jahr. "Wenn der Anschlag auf uns für eines gut war, dann für die Werbung für "Charlie Hebdo"", kommentierte der Zeichner Luz sarkastisch. Während der Pressekonferenz musste er aber mehrmals mit den Tränen kämpfen und vom Chefredakteur getröstet werden. Die Aufegung über das Titelbild mit dem weinenden Mohammed, das bei einigen muslimischen Vertretern in Ägypten oder Pakistan schon heftige Ablehnung hervorruft, will Luz nicht verstehen. "Das ist keine Titelseite mit einem Terroristen. Da ist gar kein Terrorist. Da ist nur ein Mann, der weint. Ein guter Mann, der weint. Es tut mir leid, wenn jemand anderes erwartet hat. Das ist unsere Wahl", sagte Luz.
Die Zeitung soll weiterleben
"Wir wollen natürlich, dass dies ein komisches Heft ist. Wir werden euch zum Lachen bringen, denn etwas anderes können wir nicht. Das sagt doch auch, dass sie Charlie nicht getötet haben", sagte Chefredakteur Biard nach einer Redaktionssitzung, an der auch Frankreichs Regierungchef Manuel Valls demonstrativ teilnahm. Valls, den man sonst karikiere, die Hand zu schütteln, habe einige Überwindung gekostet. Das zeigt ein weiterer Cartoon in "Charlie Hebdo".
Wenn die islamistischen Terroristen mit ihrem Massaker an zwölf Menschen in und vor der Redaktion das Magazin "Charlie Hebdo" zum Schweigen bringen wollten, dann sind sie total gescheitert. Sie haben das Gegenteil erreicht. Das Heft wird sogar in sechs Sprachen übersetzt, auch ins Arabische.