Schon Kafka liebte Stummfilme
20. August 2012Schnelle Schnitte, aufwendige Montage, Farbe und Experimente mit dem Ton. Eine Erfindung der Filme des späten 20. oder gar des 21. Jahrhunderts? Von wegen! Das alles hat es schon einmal gegeben. Nämlich in den 1920er Jahren, bevor der Siegeszug des Tons im Kino begann, erklärt Stefan Drößler. Er ist Chef des Münchner Filmmuseums und stellt das Programm des Internationalen Stummfilmfestivals in Bonn zusammen.
Der Tonfilm wurde zunächst als Rückschritt gesehen
"Damals konnten Filme komplett visuell erzählt werden", sie hätten eigentlich keine Zwischentitel benötigt, auch keinen Ton. Die Filmsprache war an einem Höhepunkt angelangt. "Der Tonfilm bedeutete zunächst einmal einen Rückschritt", sagt Drößler. Stummfilme auf großer Leinwand und mit Live-Musikbegleitung heute zu sehen, ist einerseits ein Stück Nostalgie. Auf der anderen Seite gewähren sie aber auch einen Blick zurück auf eine Kunstform, die viele Elemente späterer Jahrzehnte bereits vorweggenommen hat.
"Das ist immer eine Entdeckungsreise", meint Drößler: "Was gibt es? Wie vielfältig kann Filmkunst sein?" Das heutige Kino sei dagegen oft arm an neuen Ideen. "Wenn man sich die aktuellen Filme heute anschaut, wird man wenig finden, was nicht nach einem bestimmten Schema entsteht. Es gibt wirklich wenig originelle Sachen. Nicht umsonst gibt es heute so viele Remakes oder sogar ganze Stafetten von Remakes."
Filmarchive arbeiten weltweit zusammen
Seit 28 Jahren gibt es das Stummfilmfestival in Bonn. Jedes Jahr aufs Neue werden hier lang vergessene Filme auf die Leinwand gebracht, Raritäten der Filmgeschichte, auch das ein oder andere restaurierte und rekonstruierte Meisterwerk. Wiederholungen gab es im Programm über all die Jahre nicht. "Wenn wir einen Film öfters gezeigt haben wie Fritz Langs 'Metropolis', so liegt das einfach daran, dass immer wieder neue, komplettere Fassungen aufgetaucht sind." Stefan Drößler arbeitet als Leiter des Münchner Filmmuseums weltweit mit Archiven zusammen und ist ausgezeichnet vernetzt. Das kommt dem Bonner Festival zu gute.
Eine dieser filmischen Raritäten in diesem Jahr ist der Film "Die weiße Sklavin". Der gilt als erster langer Film der Kinogeschichte. "Bis 1910 wurden nur kurze Filme gezeigt", erzählt Drößler. Kino habe damals zunächst eine Art Varietécharakter gehabt. Wie im Zirkus sei eine Nummer nach der anderen abgespult worden. Es ging um Attraktionen, um Sensationen, um die Verblüffung und die Überwältigung der Zuschauer. Dieses Prinzip lief sich dann irgendwann tot. In Dänemark hatte ein Filmtheaterbesitzer eine an sich simple, damals aber revolutionäre Idee. Man könne dem Publikum doch auch einmal eine lange Geschichte vorsetzen, meinte der findige Mann. Das Ergebnis: der Film "Die weiße Sklavin", der jetzt in Bonn zu sehen ist. Erzählt wird darin die kolportagehaft ausgebreitete Geschichte einer jungen Frau, die entführt und zur Arbeit in einem Bordell gezwungen wird.
Nur haarscharf an der Zensur vorbei
Der Erfolg war überwältigend und über Dänemark verbreitete sich das Konzept nach ganz Europa. Das Motiv wurde in diversen Nachfolgefilmen vielfach variiert. Das Thema Prostitution faszinierte nicht nur das gutbürgerliche Publikum. In vermeintlichen Bordellen spielende Szenen erfreuten sich großer Beliebtheit. Filme wie "Die weiße Sklavin" passierten nur haarscharf die damalige Zensur. Und noch etwas wurde im Zuge der dänischen Filmerfolge geboren: der erste europäische Filmstar betrat die Bühne - Asta Nielsen. Nach ersten Erfolgen in Dänemark ging Nielsen nach Deutschland und wurde dort gefeiert.
Bemerkenswert ist "Die weiße Sklavin", die erstmals nach langer Zeit wieder auf großer Leinwand zu sehen ist, auch weil Franz Kafka den Film damals sah. Kafka war ein begeisterter Kinogänger und schaute sich mit seinem Freund und Schriftstellerkollegen Max Brod Filme gleich dutzendweise an. "Im Kino gewesen. Geweint" notierte er nach dem Besuch eines französischen Stummfilms einmal in seine Notizbücher. Eine inzwischen gern und viel zitierte Sentenz. Der Film "Die weiße Sklavin" taucht immer wieder in Briefen und Notizen Kafkas auf. Kafka zeigte sich fasziniert von dem damals neuen Medium: "Er war für alles Mechanische, alle technischen Neuentwicklungen der damaligen Zeit sehr offen“, sagt Stefan Drößler, der parallel zur 28. Ausgabe der Bonner Stummfilmtage ein zweitägiges Symposium zum Thema "Kafka geht ins Kino" mitorganisiert hat. Dort treffen dann Filmhistoriker auf Germanisten. Die Hauptsache aber bleibt das Filmegucken. Vor historischer Kulisse im Bonner Schlossgarten.