Schreiben gegen die Angst - Herta Müller wird 70
17. August 2023"Im Wahnsinn des Totalitarismus will eine junge Frau nicht darauf verzichten, glücklich zu sein." Mit diesen einfachen, doch treffenden Worten stellte der Herausgeber, der die rumänische Übersetzung eines Romans der deutschen Autorin und Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller veröffentlichte, den Band "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet", vor. Sie, die im rumänischen Banat geborene Autorin, wollte sich im Wahnsinn des Totalitarismus nicht aufgeben. Nicht einmal dann, als sie von der kommunistischen Geheimpolizei Securitate schikaniert, drangsaliert, bespitzelt wurde. Und auch dann nicht, als Menschen aus ihrer eigenen Gemeinschaft der Banater Schwaben sie beleidigt und des "Verrats” bezichtigt hatten, weil sie über häusliche Gewalt, über Hybris und Heuchelei, aber auch über die Nazi-Vergangenheit eines Teils der dörflichen Welt, in der sie aufgewachsen ist - einschließlich ihres Vaters - schrieb. Als "Nestbeschmutzerin" wurde sie beschimpft.
Sprache, Schweigen, Schuld
Geboren wurde Herta Müller am 17. August 1953 in Nitzkydorf im Banat (im Westen Rumäniens), in einer Familie, die das mühsam erarbeitete Hab und Gut des Großvaters verloren hatte, weil dieser vom pro-sowjetischen Regime, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Rumänien eingesetzt wurde, als Großgrundbesitzer und "Hitlerist" enteignet wurde.
Schon in jungen Jahren lebte Herta Müller in einem ständigen Wettlauf um die Entschlüsselung der Wörter und des Schweigens. In Rumänien wurde damals - wie heute - nicht über historische Schuld gesprochen.
Für die zukünftige Schriftstellerin war es eine gute Übung zur Kultivierung der Sprache - oder sogar der Sprachen. Denn außer dem alten Dialekt der Banater Schwaben, der zu Hause gesprochen wurde, lernte sie früh Hochdeutsch in der Schule sowie das Rumänisch der Nachbarn, der Institutionen, aber auch der Henker des totalitären Regimes. Es ist das interlinguistische Universum, in dem sie später schreiben sollte. "Autoren, die einer ethnischen Minderheit angehören, werden sich immer von denen unterscheiden, die in der Sprache der Mehrheitsbevölkerung, der offiziellen Landessprache, schreiben", sagt Corina Bernic, Übersetzerin vieler Texte der Autorin. "Sie verfügen über andere sprachliche und kulturelle Werkzeuge, die aus einer anderen Muttersprache kommen - es sind andere Werte, eine andere Art von literarischer Schule, andere Einflüsse."
Herta Müller schrieb auf Deutsch, ihrer Muttersprache, was sie zu einer deutschen Schriftstellerin macht. Aber ohne das Leben in Rumänien, mit den erlittenen Traumata, mit dem Verrat von Freunden, die sie bei der Securitate anschwärzten, mit den auf sich genommenen Opfern, ohne die Lügen und die Angst vor dem System, wäre die Kraft ihrer größtenteils autobiografischen Schriften wahrscheinlich nicht so eindringlich gewesen.
In einem Aufsatz für die Deutsche Welle erinnert sich der ehemalige Leiter des Literaturhauses Berlin, Ernest Wichner (selbst ein im Banat geborener Schriftsteller und Wegbegleiter der Autorin), dass Herta Müllers Ex-Mann Richard Wagner (wie Wichner auch ein markantes Mitglied der Banater Aktionsgruppe in den 1970-er Jahren) einmal ironisch sagte, sie habe den Rumänen die Bücher geschrieben, die ihnen gefehlt hätten: "Wagner bezog sich dabei auf die Einflüsse der rumänischen Sprache und die politische Natur ihrer Bücher, die Art und Weise, wie sie über die Diktatur schrieb und darüber, wie die Mehrheit der Bevölkerung und insbesondere die Institutionen an der Aufrechterhaltung der Diktatur beteiligt waren."
Vertreibung und Exil
Von Anfang an, mit ihren ersten Büchern, begann die Jagd auf die junge Autorin. Ihre Figuren, sogar in zensierter Form, störten und mussten verschwinden. Die Securitate, ohnehin verärgert darüber, dass es nicht gelungen war, Herta Müller zur Mitarbeit zu überzeugen, war wütend, dass ein schwäbisches Mädchen aus einem Banater Dorf sich erlaubte, über das zu schreiben, worüber nicht geschrieben werden sollte. Eine Wut, die größer wurde, als der 1982 in Rumänien auf Deutsch veröffentlichte - und zensierte - Erzählband "Niederungen” zwei Jahre später - unzensiert - in einem Westberliner Verlag erschien.
Die Behörden konnten es kaum erwarten, die Autorin außer Landes zu sehen. Die letzten Monate in Rumänien wurden zur psychischen Tortur: unzählige Schikanen, mehr als 50 Verhöre in den Gewölben der Securitate, Erniedrigungen während des Wartens auf die Ausreise. "Ich erinnere mich gut daran", schreibt der rumänische Publizist und Diplomat Emil Hurezeanu in einem Aufsatz für die DW, "es war im Winter 1987, als sie zusammen mit ihrer Mutter und Richard Wagner am Bahnhof in Berlin ankam. Es war bitterkalt. Sie waren die Boten einer eher erzwungenen als befreienden Überquerung des Eisernen Vorhangs. Zu Hause gedemütigt, den Risiken des rachsüchtigen Totalitarismus ausgesetzt, standen sie da vor einer noch unbekannten Freiheit."
Schneiderin der richtigen Worte
Herta Müller soll einmal gesagt haben, sie wolle keine Schriftstellerin werden. Als Kind hatte sie davon geträumt, als Schneiderin zu arbeiten. Zu schreiben begann sie aus Angst. Und sie "übersetzte" das Schneiderhandwerk in Literatur - in Collage-Büchern, in denen ihre Gedichte niedergeschrieben waren, entstanden aus Wörtern, die aus Zeitungen ausgeschnitten und in einem lyrischen Kaleidoskop miteinander verbunden wurden.
"Was Herta Müller von den anderen zeitgenössischen Autoren unterscheidet? Die Poetik ihrer Sprache, die sagenhafte Beschreibungskraft in wenigen Wörtern von Zuständen und Situationen, die den Leser direkt in die Welt zwischen den Seiten, in ihre Poesie, versetzen. Eine Poesie, scheinbar zerbrechlich, aber gleichzeitig scharf, spitz, mit der Präzision eines Skalpells", so die Autorin und Übersetzerin Corina Bernic gegenüber der DW.
Herta Müller sei sich selbst immer treu geblieben, auch wegen einer "hartnäckigen Klarheit der Meinungsverschiedenheiten", wie Emil Hurezeanu sagt. Sie wusste, wie man nicht aufgibt, wie man seine Prinzipien beibehält und seine Meinung ohne Rücksicht auf Verluste äußert. "Man kann sehen, was du denkst", soll ihr einmal ein Securitate-Offizier gesagt haben.
"Ich bewundere Herta Müller für den Mut, mit dem sie sich gegen die Feinde von Demokratie und Menschenwürde im Rumänien der 70er und 80er Jahre gestellt hat", schreibt Joachim Gauck, Bundespräsident a.D., in seiner Würdigung der Jubilarin für die DW. "Bis heute erhebt sie ihre Stimme immer wieder für die Demokratie und die unantastbare Würde aller Menschen. Ihre Leser beschenkt Herta Müller mit feinfühligen Beobachtungen und einer Sprache, die das Unverständliche verständlich machen."
Kurz vor dem 70. Geburtstag der Autorin veröffentlichte der Münchner Hanser-Verlag einen neuen Band: "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald". Das Buch umfasst Artikel, Essays und Reden aus den letzten 20 Jahren. Auch dieses Mal zeigt sich, dass sich Herta Müller selbst treu bleibt. "Im Mittelpunkt von allem, was sie schrieb und weiterhin schreibt, steht eine absolut einfache Überzeugung: Es reicht, wenn einer einzigen Person Unrecht zugefügt wird, damit die ganze Menschheit davon betroffen ist. Jeder Mensch muss sich dieser Ungerechtigkeit bewusst sein", sagt Ernest Wichner gegenüber der DW. "Und weil es auf der ganzen Welt keinen Staat und keine Religion gibt, die solche Ungerechtigkeiten bekämpfen, die sich vervielfachen und verschlimmern, bis hin zu Krieg und Genozid, brauchen wir Persönlichkeiten wie Herta Müller."
Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz