"Hinter Erdogans Forderung steckt Wahnsinn"
9. Juni 2016Das deutsch-türkische Verhältnis ist derzeit spannungsgeladen. Anfang Juni hat der Bundestag eine Resolution verabschiedet, in der die Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern 1915 durch das Osmanische Reich während des Ersten Weltkriegs als Völkermord bezeichnet wird. Die türkische Regierung reagierte mit scharfen Vorwürfen Richtung Deutschland. Präsident Recep Erdogan warf türkischstämmigen Abgeordneten des Deutschen Bundestags vor, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK als verlängerter Arm zu dienen. Er stellte auch die Aufforderung in den Raum, man solle Bundestagsabgeordnete mit türkischen Wurzeln einem Bluttest unterziehen. Erdogan zieht deren türkische Abstammung in Zweifel. Das wiederum hatte heftigen Protest deutscher Spitzenpolitiker zur Folge. Auffallend zurückhaltend waren in den vergangenen Tagen deutsche Kulturschaffende mit türkischen Wurzeln. Deutlich Stellung bezieht der Schriftsteller Deniz Utlu jetzt im DW-Interview.
DW: Herr Utlu, wie beurteilen Sie es, dass Staatspräsident Erdogan deutsche Politiker als verlängerten Arm der PKK bezeichnet hat und damit faktisch alle kritischen Stimmen in Deutschland einzuschüchtern versucht?
Deniz Utlu: Diese Art der Denunzierung hat leider Tradition und ist keine neue Strategie, zumindest auf nationaler Ebene. Wie viele Journalisten, Autoren und Kulturschaffende sind mit diesem Vorwurf ins Gefängnis gekommen, sie würden Ergenekon, PKK oder sonst wen unterstützen. Dass Erdogan diese Rhetorik jetzt auf deutsche Politiker anwendet, macht hier vielleicht ein Stück nachvollziehbarer, womit so viele demokratische Kräfte in der Türkei seit langem zu kämpfen haben. Zuletzt hat die Regierung es ja geschafft auch türkische Abgeordnete durch die Aufhebung ihrer Immunität dieser Verwundbarkeit auszusetzen.
Was steckt hinter der "Bluttest-Aussage" und der fragwürdigen Formulierung "Reinheit des Blutes"?
Wahnsinn steckt dahinter. Und ein Menschenbild, das vor 500 Jahren von Europa aus in die Welt getragen wurde und das wir immer noch nicht eliminieren konnten. Außerdem steckt da eine Gefahr dahinter, nämlich dass gewaltbereite Faschisten diesen Wahnsinn zum Anlass nehmen, ihren Hass noch stärker zu legitimieren. Auch in der Verbindung mit dem Terrorismusvorwurf.
Was dahinter nicht steckt, ist eine politische Forderung, wie das von einigen Medien kommuniziert wurde. Ich denke, wir sollten hier differenziert sein, denn Hysterie hilft nicht. Dass solche Bilder ernsthaft verwendet werden, ist ungeheuerlich und gefährlich genug. Wir sollten diese Bilder in den Reden entlarven, ihnen aber nicht zusätzliche Autorität zusprechen, in dem wir sie in Zeitungsartikeln als eine politische Forderung aus Ankara beschreiben.
Befürchten Sie, dass diese verbalen Attacken in Politik umgemünzt werden könnten? Und wie würde das dann aussehen?
Nein, das glaube ich nicht. Zumindest nicht in nächster Zukunft. Es handelt sich hier um pure, leere Rhetorik. Das hat mit Politik im Sinne von Regierungsführung und Gesetzgebung nichts zu tun. Institutionell ist das auch nicht der Stand in der Türkei. Was aber immer virulenter wird, ist eine Verkleinerung des demokratischen Raumes und eine Verstärkung von totalitären Elementen.
Was können und sollten in Deutschland Politiker, Kulturschaffende, Künstler, Schriftsteller dagegen tun?
Diese Frage ist ausgesprochen wichtig. Und ich denke, da ist viel zu tun. Hier wurden viele gravierende Fehler in den letzten zehn Jahren gemacht. Zum Beispiel 2006/2007 als Merkel und Sarkozy die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei geblockt haben. Das war eine Phase, in der demokratische Kräfte in der Türkei durch eine weitere Annäherung der EU oder gar eine Aufnahme in die EU hätten gefördert werden müssen. Dann wären wir heute an einem anderen Punkt. Und das ist nur ein Beispiel für Versäumnisse in Europa und Deutschland bezogen auf die Türkei.
Was muss denn konkret angepackt werden?
Ich habe natürlich kein Rezept und die Lage ist verzwickt. Aber es gibt ein paar Dinge, die vielleicht helfen könnten. Erstens, sollten wir bei Verhandlungen mit der Türkei darauf achten, nicht gerade Salz in die Wunden zu streuen: Beispiel Visa. Es ist ein Unding, dass es keine Visafreiheit für türkische Staatsbürger nach Deutschland gibt.
Es leben viele Menschen mit Wurzeln aus der Türkei in Deutschland und jeder und jede hat eine Geschichte der Schikane aufgrund der Grenzpolitik zu erzählen. Familien und Freunde, die sich Jahre lang nicht sehen konnten oder mit Frust im Bauch einreisen, weil es entwürdigend ist um Einlass zu betteln.
Das ist nur ein Beispiel von vielen für einen Frustrationspunkt der türkischen Öffentlichkeit mit der EU. Solcher Frust macht Menschen empfänglich für Demagogie und autoritäre Rhetorik. Fazit: Wir sollten politisch überlegen, was die türkische Öffentlichkeit braucht und nicht damit spielen.
Zweitens, alle demokratischen oder auch nur potentiell-demokratischen Institutionen sollten gestärkt werden, wo es nur geht und zwar in allen Politikfeldern: Dass das Yunus Emre Enstitüsü, das türkische Goethe Institut, gerade in dieser Zeit Mitglied der EUNIC wird, ist genau richtig. Es sollten mehr türkischsprachige Autoren in europäische Sprachen übersetzt und Filme gefördert werden. Menschenrechtliche Einrichtungen, wie Ombudsstellen etc. müssten gestärkt werden, nicht nur finanziell.
Welche Rolle kommt in diesem Zusammenhang den Medien zu?
Es scheint es mir wichtig, in der Berichterstattung darauf zu achten, keine spaltenden Stereotype und binären Oppositionen von Okzident und Orient zu reproduzieren. Gerade jetzt muss ein Zeichen gesetzt werden, wie sehr die Türkei nach Europa gehört und in was für einer bedrückenden Ausnahmesituation das Land sich befindet. Mit europäischer Zugehörigkeit meine ich eine historische und kulturelle Tatsache. Wir reden viel über europäische Werte, vergessen aber dabei oft den parallelen Verlauf Jahrhunderte langer Zerstörung, angefangen beim Kolonialismus - auch in diesem Sinne ist die Türkei Teil Europas.
Und wenn Werte heute teilweise neu verhandelt werden – zum Beispiel Verfolgten Schutz zu gewähren - dann muss das Ziel darin bestehen, diese Werte menschlich tiefer zu verankern, anstatt sie abzuschaffen. Wir müssen das alle gemeinsam tun. Jetzt reißen wir stattdessen wieder Gräben auf, die die Menschen Jahrhunderte lang trennen könnten.
Deniz Utlu, 1983 in Hannover geboren, ist ein junger, aufstrebender Schriftsteller mit türkischen Wurzeln. In Berlin und Paris absolvierte er ein Studium der Volkswirtschaftslehre. Inzwischen arbeitet er als freischaffender Autor in Berlin. Im Frühjahr 2014 ist sein Debüt-Roman "Die Ungehaltenen" erschienen, in dem Utlu die existentialistische Wut und Trauer zweier Berliner beschreibt, deren Väter Arbeiter aus der Türkei sind, und die im Sterben liegen. Die Theaterfassung von "Die Ungehaltenen" hatte Ende Mai 2015 im Berliner Maxim-Gorki-Theater Premiere.
Das Interview führte Klaus Krämer.