Ein Student jagt NS-Richter
25. November 2019Zwei Jahre nach Kriegsende kehrte Reinhard Strecker Deutschland den Rücken und ging nach Paris mit fester Absicht, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Als er 1954 auf ausdrücklichen Wunsch seiner Eltern doch in die alte Heimat zurückkehrte, erlebte er einen Schock: an den bundesrepublikanischen Gerichten fällten viele Richter Urteile, die bis 1945 Funktionsträger des NS-Staates waren.
"Wenn ich in Deutschland bleiben sollte, musste sich das Land ändern. Dass man mit den alten Verbrechern die Demokratie aufbauen konnte, hielt ich für idiotisch. Ich musste etwas dagegen tun", sagt Strecker im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Mit dem Programm der Entnazifizierung wollten die Westmächte und die Sowjetunion nach dem Sieg über Hitler die deutsche Gesellschaft von den Nazis säubern. Nach Kriegsende wurden etwa 200.000 als gefährlich geltende und mutmaßlich in die Verbrechen verstrickte NS-Aktivisten aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt und in Internierungslager geschickt.
Es fehlten Richter
Der Ausdruck dieses festen Willens, die Verantwortlichen hart zu bestrafen, waren die Nürnberger Prozesse und die Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher (20. November 1945 - 1. Oktober 1946), die mit zwölf Todesurteilen endeten. Später folgten Prozesse gegen einzelne Berufsgruppen. "Die zunächst rigorose Entnazifizierungspolitik brachte die Alliierten in große Bedrängnis. In der Zeit der Flüchtlingsströme und Schwarzmärkte drohte die Kriminalität aus dem Ruder zu laufen, während die benötigten Richter schlichtweg fehlten", schreibt Historiker Marc von Miquel im Buch "Karrieren im Zwielicht".
Angesichts des Personalmangels wurden die Vorschriften immer wieder gelockert. Die Kritiker sprachen bald von der "Renazifizierung" der Justiz in den Westzonen. "Bis Anfang der sechziger Jahre waren in Deutschland noch zwischen 1.100 und 1.200 teils namentlich bekannte NS-Richter und Staatsanwälte als Justizjuristen tätig", schätzte Klaus-Detlev Godau-Schüttke in seiner Untersuchung "Der Bundesgerichtshof. Justiz in Deutschland". Viele hatten Todesurteile an Standgerichten in besetzten Ländern wie Polen oder Dänemark gefällt.
Kein Wunder also, dass die Versuche, gegen belastete Kollegen vorzugehen, unter deutschen Juristen von Anfang an auf großen Widerstand stießen. Bereits auf dem Konstanzer Juristentag im Juni 1947, noch während des Nürnberger Juristenprozesses, "trat die Abwehrhaltung des Berufsstandes offen zutage“, schreibt von Miquel.
"Der Sprecher der Versammlung, der Lindauer Landgerichtspräsident Hermann Müllereisert, tönte, die in den Nürnberger Prozessen angewandten Rechtssätze seien nichts anderes als ´ein Ausnahmerecht nur für Deutsche´, das allein dazu diene, ´Rache am politischen Gegner zu nehmen´".
Auch die Stimmung in der westdeutschen Bevölkerung hatte sich gewandelt. "Die anfänglich hohe Akzeptanz des Nürnberger Hauptprozesses war inzwischen einer generellen Aversion gegen die alliierten Ahndungsbemühungen, insbesondere gegen die Nachfolgeprozesse gewichen", urteilt der Historiker.
Adenauer war kein Nazi
"Dass ich kein Nazi geworden bin, verdanke ich meinen Eltern, weil sie strikt gegen die Nazis waren. Mein Vater gehörte zu den Begründern der Bekennenden Kirche in Berlin. Meine Mutter und mein Vater haben uns Kindern sehr deutlich beigebracht, dass man mit den Nazis nichts zu tun haben könne", sagt Strecker. Der 1930 geborene Berliner stammt selbst aus einer Juristenfamilie.
Im Herbst 1954 war der damals 24-jährige Strecker nach Westberlin gezogen. Er holte das Abitur nach und nahm an der Freien Universität das Studium der indogermanischen Sprachwissenschaften auf. Doch bald galt seine ganze Aufmerksamkeit einer anderen Aufgabe: er begann, die Nazis in der Justiz und Medizin der jungen Bundesrepublik aufzuspüren.
Die Anregung kam unter anderem aus Ostberlin. Seit Mitte der 1950er Jahre verbreitete die DDR-Propaganda im Rahmen der "Blutrichter-Kampagne" Informationen über deutsche Kriegsverbrecher, die nach 1949 Karrieren in Westdeutschland fortsetzten.
"Ich war wild entschlossen, etwas dagegen zu tun, was sich dann unter Konrad Adenauer in Bonn etablierte. Ich wollte mit dem, was in Deutschland wieder anfing, nichts zu tun haben. Die Nazis, die ich hasste, waren alle wieder im Amt", betont der weißhaarige Rentner. "Adenauer war nie ein Nazi gewesen, aber er hat nach 1945 sich intensiv mit den Nazis eingelassen. Er wollte Prozesse der NS-Verbrecher vor deutschen Gerichten verhindern", meint Strecker.
Suche nach Beweisen
Strecker und seine Mitstreiter von der Universität begannen eine mühsame Suche nach Beweisen. Sie sammelten Dokumente und überprüften Identitäten. "Das war mörderische Arbeit, wir konnten uns keine Fehler leisten. Ich habe Kopien von Anklageschriften und Todesurteilen besorgt", erläutert Strecker. Unterstützung für das Projekt kam vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).
Ungeachtet der Vorwürfe, er mache sich zum Sprachrohr kommunistischer Propaganda, knüpfte Strecker persönliche Kontakte zu Ostberlin an. Nachdem ihm westdeutsche Archive Akten-Einsicht verweigert hatten, bat er die DDR-Behörden um Hilfe. Seit Ende 1958 nutzte er die ostdeutschen Archive, wo er mehr als 3.000 Aktenstücke gesichtet und kopiert hat.
Durchbruch in Karlsruhe
Eine kleine Auswahl der Dokumente zeigten Strecker und seine Kommilitonen bereits im Frühjahr 1959 in Frankfurt am Main. Der Durchbruch kam aber im November 1959 in Karlsruhe, dem Sitz der höchsten bundesdeutschen Gerichte - des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes.
Die Ausstellung "Ungesühnte Nazi-Justiz und NS-Medizin" in der Karlsruher Stadthalle, die mehr als 100 in der Bundesrepublik aktive ehemalige Nazis an den Pranger stellte, wurde zur Sensation. Dank großen Presseechos konnte das Thema nicht mehr als Tabu verschwiegen werden.
Streckers Ausstellung wanderte durch ganz Westdeutschland und wurde auch in Großbritannien und den Niederlanden gezeigt. Anfang 1960 ging der Student einen Schritt weiter und erstattete Anzeige gegen 43 ehemalige Nazis in der Justiz.
Bei der Suche nach belastenden Dokumenten hatte Strecker keine Bedenken gegen die Zusammenarbeit mit kommunistischen Behörden in Polen und in der Tschechoslowakei. Dennoch betrachteten beide Seiten - Ost und West - den engagierten Nazi-Jäger mit Misstrauen. "Für Bonn war ich ein Kommunist, für Ostberlin ein CIA-Agent", grinst Strecker.
Hilfe aus London
Der mutige Student ließ sich nicht einschüchtern. "Adenauer hatte immer wieder verkündet, dass nach dem 8. Mai 1960 alles - Totschlag, als auch Mord - vergeben und vergessen sein soll, dass er volle Amnestie anstrebt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Verbrecher im Amt bleiben sollten. Ich musste kämpfen", sagt Strecker.
Unterstützung bekam er unter anderem vom britischen Unterhaus. Nach einem Besuch Streckers in London, wo er seine Kartei Abgeordneten aller Fraktionen zugänglich machte, flog der britische Außenminister Selwyn Lloyd nach Bonn, um Adenauer in die Schranken zu weisen. "In der Frage der Verjährung musste Adenauer zurückrudern. Das war mein großer Erfolg. Die Ausstellung hat ihr Ziel erreicht", sagt Strecker. Allerdings hat der Bundestag die Verjährung von Mord und Völkermord erst 1979 endgültig abgeschafft.
Obwohl kein Richter wegen seiner Tätigkeit im Dritten Reich in der Bundesrepublik verurteilt wurde, betrachtet Strecker seine Mission nicht als gescheitert. "Dank auch meiner Arbeit haben die Deutschen, obwohl sie dafür mehrere Jahrzehnte brauchten, endlich begriffen, dass die NS-Zeit ein nicht enden wollendes Verbrechen gewesen war. 1945 stand ich mit dieser Meinung ganz allein", sagt Strecker.
Aus der Reportagen-Reihe "Schuld ohne Sühne", ein Projekt von DW Polnisch mit Interia und Wirtualna Polska. dw.com/zbrodniabezkary