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Gesellschaft

Mein Vater, der SS-Mann

Katarzyna Domagala-Pereira
20. April 2020

In ihren Familien sprach niemand über die NS-Vergangenheit, sie spürten aber die Last des Schweigens. Immer mehr Nachkommen von Nazitätern wollen ihre Familiengeheimnisse lüften und erfahren dabei Befreiung.

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Projekt "Schuld ohne Sühne" | Kurt May
Hartmut Janßen und sein Vater Kurt MayBild: H. Janssen

Hartmut Janßen fürchtete den Tag, an dem er seinen Töchtern die Wahrheit sagen wollte. Es war 2014. Im Kino lief "Im Labyrinth des Schweigens", ein Film über die Auschwitzprozesse.

Hartmut kaufte Kinokarten und lud seine Töchter zu einem Gespräch ein. "Ich bin Sohn eines SS-Täters", sagte er, als sie über den Film sprachen. Selbst jetzt, wenn er davon erzählt, versagt ihm die Stimme. Damals fürchtete er sich vor der Reaktion der Töchter, vor ihrer Ablehnung. Sie aber umarmten den Vater. Er habe nichts mit der NS-Vergangenheit des Großvaters zu tun, versicherten sie ihm.

Diese Vergangenheit Schritt für Schritt zu entdecken, erschütterte jedoch Hartmut und sein Selbstbild.

Die Auschwitzprozesse

22. Oktober 1964. In Frankfurt am Main findet der zweite Auschwitzprozess statt. Zeuge ist der 54-jährige Kurt May, Wirtschaftsprüfer und ehemaliger SS-Sturmbannführer. Während des Krieges (1940-42) war er Leiter der Abteilung W IV im Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS. Seine Abteilung beaufsichtigte SS-eigene Betriebe, für die Zwangsarbeiter aus den Konzentrationslagern eingesetzt wurden.

Hartmut hörte sich die Audioaufnahmen aus dem Prozess mehrmals an. Satz für Satz, die bekannte Stimme seines Vaters.

Hartmut Janßen
Hartmut Janßen: "Ich bin Sohn eines SS-Täters"Bild: DW/K. Domagala-Pereira

"Ich wusste, Hitler ist nichts Gutes"

Als Kurt May in Frankfurt aussagte, war Hartmut 16 Jahre alt. Damals wohnte er mit seiner Mutter in Hamburg. Noch wenige Jahre zuvor hatte ihn sein Vater besucht, wenn auch nur selten. In Süddeutschland hatte Kurt May seine Ehefrau und zwei Töchter. Für seine Geliebte und den Sohn wollte er sie nicht verlassen.

Hartmut erinnert sich an einige Treffen mit seinem Vater. Eins davon endete mit einer Autofahrt. Kurt prahlte vor dem Jungen, dass er bei Hitler war, als der nach Österreich einmarschierte und mit anderen Offizieren jubelte. "Ich konnte das noch nicht richtig einordnen, aber ich wusste, dass Hitler nichts Gutes ist". Hartmut war damals 13.

Seine Enttäuschung über den Vater wuchs. Er schrieb einen Brief, in dem er ihn um Erklärungen bat. Der Sohn wollte genau wissen, was sein Vater im Dritten Reich getan hatte und drohte damit, den Kontakt zu ihm abzubrechen. May erklärte sich aber nicht und Hartmut sah seinen Vater nie wieder. Er fuhr auch nicht zu seiner Beerdigung 1978.

Suche nach Beweisen

Mays SS-Vergangenheit ließ Hartmut jedoch keine Ruhe. Seine Mutter erzählte nichts darüber, erst nach ihrem Tod führte er eigene Recherchen durch.

Mit 65 Jahren nahm er am Gesprächsseminar "Ein Täter, eine Täterin in der Familie?" und an einem Recherche-Workshop in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme teil. Dort traf er Menschen, die das gleiche Ziel hatten wie er.

Solche Seminare sind in Deutschland selten. In Neuengamme finden sie seit zehn Jahren statt und werden immer beliebter. Jedes Mal kommen etwa zwanzig Teilnehmer. "Immer häufiger sind das schon die Enkel der Täter", sagt Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Es gibt einen Grund: Die nächste Generation bricht die Barriere des Schweigens, mit denen ihre Eltern nicht fertig wurden. Für deutsche Familien ist es immer noch ein Tabuthema. "Sie wissen relativ wenig über die Rolle enger Verwandter im Nationalsozialismus", betont von Wrochem.

Archivare und Historiker erklären den Teilnehmenden, wo sie nach Informationen suchen können, wie sie Abzeichen an der Uniform oder die Feldpostnummer interpretieren. Sie sprechen über Barrieren, Schamgefühle, Probleme und über ihre innere Zerrissenheit. "All diese Gespräche haben mir Mut gemacht. Ich fühlte mich nicht mehr allein", sagt Hartmut Janßen. "Aber ich brauchte immer wieder Pausen, um mich selbst zu schützen".

KZ-Gedenkstätte Neuengamme
KZ-Gedenkstätte NeuengammeBild: DW/P. Kouparanis

Gegen die Familie

Fast jeder, der zum Seminar nach Neuengamme kommt, kämpft mit Unsicherheit und Loyalitätskonflikten. "In vielen Familien werden sie kritisch, als Nestbeschmutzer, gesehen", sagt die Hamburger Therapeutin Karin Heddinga, die die Seminare mitgestaltet. "Auf ihrer Suche sind sie oft einsam. Es kommt vor, dass die Familie den Kontakt zu ihnen abbricht".

Und das, was sie entdecken, hinterlässt Spuren. Einige berichten über gesundheitliche Probleme.

"Wenn sie anfangen, wissen sie nicht, was sie erwartet", so Heddinga. Mit der Zeit merken sie, dass die Reaktionen aus der Familie nicht mehr so unterstützend sind. Sie fangen an zu zweifeln, auch an sich selbst. "Für jeden von ihnen ist es eine schwierige Zeit und jeder geht damit anders um. Jeder braucht aber eine starke emotionale Distanz".

Schuld ohne Sühne

Das von Hartmut Janssen mühsam gesammelte Puzzle zeigt noch nicht das ganze Bild, aber die anfänglichen Vermutungen verdichteten sich zur Gewissheit: Kurt May unterstützte aktiv die nationalsozialistische Tötungsmaschinerie. Er war verantwortlich für die Ausbeutung von KZ-Zwangsarbeitern, die "Arisierung" von jüdischen Unternehmen in der Tschechoslowakei, den Aufbau und die Leitung von SS-Unternehmen und letztlich auch für die Unterstützung der Verbrechen im KZ-System der Nationalsozialisten, so der Sohn. May sühnte aber nie für diese Beihilfe zum Mord.

Hartmut Janßen und anderen Seminarteilnehmern geht es nicht nur um Schuld und Sühne, sondern auch darum, aus der Vergangenheit zu lernen. Für sie sind Populismus und Antisemitismus Warnsignale. "Es ist wichtig, offen über die Vergangenheit zu sprechen und zu warnen", betont Janßen.

Aus der Reportage-Reihe "Schuld ohne Sühne". Ein Projekt von DW-Polnisch mit Interia und Wirtualna Polska: dw.com/zbrodniabezkary

 

Kommentarbild Katarzyna Domagala-Pereira
Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.