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Gesellschaft

Schwanger, keine Papiere: "Es ist die Hölle"

31. Oktober 2019

Mary aus Ghana lebt in Hamburg, hat aber kein Aufenthaltsrecht in Deutschland und keine Krankenversicherung - ein Risiko für sie und ihr Baby. Aus Angst vor Abschiebung zögern Papierlose wichtige Behandlungen hinaus.

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Praxis Andocken der Diakonie in Hamburg
Bild: DW/A. Grunau

"Wo leben Sie?", fragt Maike Jansen. Die Hebamme kniet auf dem Boden und lächelt die Schwangere an. "Ich habe keinen Platz" - Mary gerät ins Stocken: "Ich bin mal hier, mal da." Mitglieder einer Kirchengemeinde nehmen sie auf und versorgen sie abwechselnd, erzählt die Frau aus Ghana, die ihren richtigen Namen nicht nennen will. "Es ist hart, wenn Sie keine feste Basis haben", sagt die Hebamme mitfühlend. Mary nickt. Sie umklammert das Taschentuch in ihren Händen.

Wie lebt sie ohne Aufenthaltsrecht? "Es ist die Hölle!" - dreimal bricht der Satz aus ihr heraus. "Wenn mir jemand etwas tut, dann mache ich mir nichts daraus, ich erinnere mich nicht mal daran." Was man ihr antut, sagt sie nicht. Sie betont, das Wichtigste für sie sei die Gesundheitsversorgung hier.

Praxis Andocken der Diakonie in Hamburg
Wer in die Praxis Andocken der Diakonie Hamburg kommt, muss sich auf lange Wartezeiten einstellenBild: DW/A. Grunau

Hier - das ist die Praxis Andocken für Menschen ohne Papiere bei der Diakonie Hamburg. "Wir unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht", verspricht das mehrsprachige Schild am Empfang. Schon vor der Sprechstunde stehen Patienten vor der Tür. Ihnen helfen - anonym, kostenlos und vielsprachig - Allgemeinmediziner, eine Sozialarbeiterin, eine Gynäkologin und seit April mit Maike Jansen erstmals eine Hebamme, eine zweite soll folgen.

Ständige Angst - Risikoschwangerschaften

Mary war kürzlich bei Gynäkologin Teresa Steinmüller. Diagnose: zu hoher Blutdruck, Übergewicht, Blut und Bakterien im Urin, nur eine Niere - Gesundheitsrisiken für sie und ihr Baby. Viele Frauen bringen auch Traumata mit, sagt Steinmüller: Vergewaltigungen auf der Flucht, Genitalverstümmelungen oder die Sorge um Kinder, die sie zurückgelassen haben. Auch Mary hat ihre Tochter einer Tante in Ghana anvertraut.

Praxis Andocken der Diakonie in Hamburg
Belastungen sind ein Risiko für Mütter und Babys - Gynäkologin Teresa Steinmüller ist zugleich PsychotherapeutinBild: DW/A. Grunau

Das Leben ohne Papiere, die Furcht vor Entdeckung und Abschiebung seien schwere Belastungen für die Schwangeren, beobachtet Steinmüller, die auch Psychotherapeutin ist: "Sie haben ständig mit Angst zu tun." Die Folgen seien Depressionen, Schlaf- und Angststörungen sowie körperliche Beschwerden wie Infektionen und vorzeitige Blasensprünge. Fast jede zweite Schwangerschaft sei eine Risikoschwangerschaft. Umso wichtiger die Vorsorge: "Diese Frauen brauchen viel mehr Betreuung", sagt die Gynäkologin.

Ärzte warnen vor Rückkehr nach Ghana

Hebamme Maike Jansen, die viel im Ausland und mit Geflüchteten gearbeitet hat, nimmt sich Zeit für Mary. Sie tastet sanft ihren Bauch ab, lässt sie fühlen, wo das Baby in der Gebärmutter liegt, und über den Verstärker hören, wie das Blut durch die Nabelschnur zu ihrem Kind fließt. Ihre Patientin wird ruhiger, ihre Stimme weicher. Mary hat nur noch eine Niere. Die andere hat sie ihrer Cousine in England gespendet, erzählt sie, dafür sei sie nach Europa gekommen. Die Cousine starb trotz der Transplantation. Mary war allein, ihr Visum lief ab.

Praxis Andocken der Diakonie in Hamburg
"Hier liegt das Baby" - Hebamme Maike Jansen will, dass Mary sich bei allen Sorgen auch auf ihr Kind freuen kannBild: DW/A. Grunau

Die Ärzte hätten sie gewarnt, nach Ghana zurückzukehren, weil sie dort mit einer Niere nicht richtig versorgt wäre, sagt Mary. Das Auswärtige Amt schreibt über den westafrikanischen Staat: "Die medizinische Versorgung ist mit Europa nicht zu vergleichen und vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch."

Gesunde Ernährung - kaum zu schaffen

Mary schlug sich nach Hamburg durch, weil andere Ghanaer sagten, sie könnten ihr hier helfen. Sie zeigten ihr den Weg zu Andocken und gaben ihr zu essen, erzählt sie Maike Jansen. Das Traditionsgericht Fufu aber, den stärkehaltigen Brei, esse sie nicht mehr, seit sie weiß, dass sie zu schwer ist. Tatsächlich hat sie abgenommen seit dem letzten Besuch bei Andocken, ihr Blutdruck ist nicht mehr so hoch. Sie trinkt mehr Wasser und versucht, sich mehr zu bewegen, berichtet Mary.

Praxis Andocken der Diakonie in Hamburg
Das Wartezimmer in der Praxis Andocken der Diakonie HamburgBild: DW/A. Grunau

Maike Jansen lobt ihre Konsequenz. Sie weiß, wie schwer es für Frauen ohne feste Unterkunft und eigenes Geld ist, sich ausgewogen mit viel Gemüse und Obst zu ernähren: "Das kann man nicht verlangen." Sie gibt ihnen Folsäure, Eisen-, Magnesium- und Vitamintabletten, empfiehlt günstige Hausmittel gegen Blasenentzündungen. Jedes Jahr hilft Andocken etwa 200 schwangeren Frauen. Die meisten kommen aus Ghana, anderen afrikanischen Ländern, eine kleinere Zahl aus Lateinamerika, Asien oder EU-Anrainerstaaten. Die Praxis ist auf Spenden angewiesen.

Angst vor Abschiebung

Menschen wie Mary - irreguläre oder undokumentierte Migranten - machen sich in Deutschland strafbar. Staatliche Stellen (außer Schulen) sind verpflichtet, jeden illegalen Aufenthalt der Ausländerbehörde zu melden. Dann droht die Abschiebung. Deshalb steigen Mary und andere nie ohne Fahrschein in den Bus und achten darauf, nirgendwo aufzufallen. Wie viele Papierlose in Deutschland leben, ist unbekannt. Die letzte wissenschaftliche Schätzung für 2014 ging von 180.000 bis maximal 520.000 Personen aus.

Das Recht auf Gesundheit ist ein Menschenrecht. Auch Mary hat Anspruch auf Behandlung akuter Erkrankungen und Versorgung in der Schwangerschaft. Planbare Behandlungen aber müssen beantragt werden. Aus Angst vor Abschiebungen zögern Papierlose wichtige Behandlungen gefährlich lange hinaus, berichten Helfer.

Nur vereinzelt gibt es in Deutschland offizielle "anonymisierte Krankenscheine" und anonyme Behandlungen in Gesundheitsämtern. Vielerorts sind es Medinetze, Medibüros und andere nicht-staatliche Initiativen, die an Mediziner vermitteln, die kostenlos anonym behandeln. Die "Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenschein" begleitete 2018 rund 650 Schwangerschaften.

Praxis Andocken der Diakonie in Hamburg
"Wenn sie reinkommen, haben sie Angst" - Sozialarbeiterin Maria José Guillén Ramirez in der Praxis AndockenBild: DW/A. Grunau

In Notfällen hat jeder das Recht auf eine anonyme Behandlung im Krankenhaus. Aber dieses Recht zu verwirklichen, "ist richtig schwer", sagt Maria José Guillén Ramirez, Sozialarbeiterin bei Andocken: "Wenn es ein Notfall ist, müssen sie die Leute aufnehmen, aber es gibt Krankenhäuser, die das nicht machen." Krankenhäuser, die helfen, erhielten oft kein Geld dafür. Diese Missstände bestätigt die "Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität" in einem Arbeitspapier: "Der 'Nothelferparagraph' im Krankenhaus funktioniert nicht", heißt es dort.

In Hamburg prüft eine Clearingstelle, ob Papierlose - darunter viele Schwangere - ins reguläre System aufgenommen werden können. Wo das nicht gelingt, können dringende Behandlungen aus einem Notfallfonds finanziert werden. Die Mittel sind begrenzt.

Wege aus der Illegalität

Angst vor Behörden kann für die Kinder gravierende rechtliche Folgen haben, warnt das "Katholische Forum Leben in der Illegalität". Wenn sie "keine Geburtsurkunde besitzen, können (sie) weder ihre Existenz noch die Zugehörigkeit zu ihrer Familie nachweisen". Mary könnte dann nicht verhindern, dass ihr Baby von ihr getrennt wird.

Ab der 32. Schwangerschaftswoche kann sie bei der Ausländerbehörde in Hamburg eine Duldung für die Mutterschutzzeit beantragen. Wer die hat, muss bis mindestens acht Wochen nach der Geburt keine Abschiebung befürchten und ist krankenversichert, erläutert Sozialarbeiterin Ramirez. Allein die Geburt koste mehrere tausend Euro. So viel Geld habe keine der Frauen, ohne Papiere bekommen sie keinen regulären Job. Die meisten putzen für wenig Geld in privaten Haushalten, solange es in der Schwangerschaft noch geht.

Viele fürchten eine Abschiebung nach dem Mutterschutz, sagt die Sozialarbeiterin. Wenn der Kindsvater Deutscher ist - oder ein Aufenthaltsrecht hat - und die Vaterschaft anerkennt, dann darf auch die Mutter bis zum 18. Geburtstag ihres Kindes in Deutschland bleiben. Mary hofft, dass der Vater ihres Babys die Anerkennung unterschreibt: "Ich bete zu Gott, dass er das tut."

Praxis Andocken der Diakonie in Hamburg
Hebamme Maike Jansen nimmt sich viel Zeit für die Sorgen von Schwangeren wie Alimat (Name geändert) aus BeninBild: DW/A. Grunau

Darauf hofft auch Alimat (Name geändert), eine andere Patientin von Maike Jansen. "Es war nie mein Plan, nach Deutschland zu kommen", sagt die Schwangere aus Benin. Sie ist selbst Hebamme. Nach dem Tod ihres Mannes wollte seine Familie sie verheiraten, berichtet sie. Ein Bekannter habe ihre Papiere samt Diplom genommen und versprochen, ihr eine entsprechende Stelle in Frankreich zu vermitteln. Dort aber wollte er sie in die Prostitution zwingen. Sie holt tief Luft: ein Schock!

Nach zwei Tagen konnte sie fliehen: "Ich habe auf der Straße um Hilfe gebeten". Jemand rief ihre Freundin in Deutschland an. Die organisierte ein Ticket nach Hamburg. Jetzt lebt Alimat bei ihr - ohne Papiere. Sie sorgt sich um ihren Sohn bei ihren Eltern in Benin: Dort herrsche Gewalt. Sie hofft darauf, "dass meine Kinder im Frieden leben".

HIV-Infektion, Tränen, Kampfgeist

Bei einer anderen Schwangeren ergab die Blutprobe, dass sie mit HIV infiziert ist. Doch sie war lange nicht zu erreichen, berichtet Gynäkologin Teresa Steinmüller: Sie hatte kein Geld, ihr Handy aufzuladen. Heute teilt die Ärztin ihr die Diagnose mit. Sie soll schnell Medikamente bekommen, um die Chancen für ein gesundes Baby zu erhöhen. Die Patientin scheint sich nach dem ersten Schock zu beruhigen, doch dann sitzt sie haltlos weinend im Wartezimmer. Maike Jansen führt sie in den kleinen Behandlungsraum, hört sich ihre Sorgen an, beruhigt sie. Die Sprechstunde ist längst vorbei.

Praxis Andocken der Diakonie in Hamburg
"Ihr Bauch ist ganz hart" - Maike Jansen stellt immer wieder fest, unter welchem Druck Schwangere ohne Papiere stehenBild: DW/A. Grunau

Am Ende des Beratungstages wirkt Maike Jansen betroffen: "Heute haben so viele geweint." In dieser Woche mussten drei Notfälle ins Krankenhaus. Frauen mit schweren Blutungen und bedrohlichen Komplikationen muss die Praxis Andocken weiterschicken. Glücklicherweise, sagt die Hebamme, "ist es nicht jeden Tag so heftig bei uns". An den Schwangeren "können wir uns ein Beispiel nehmen", betont sie. Nach den Tränen fänden sie immer wieder zum Lachen und neuem Kampfgeist.

Mary aus Ghana ist fest entschlossen, ihr schwieriges Leben zu meistern. Sie verdrängt ihre Angst: "Ich habe eine Tochter in Afrika und ich muss für das Baby sorgen. Deshalb muss ich kämpfen, ich darf mein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen."