Schweden schafft es nicht mehr
20. November 2015Mohammed Munir öffnet die Klappe des weißen Plastikzelts und zeigt auf seine 9-jährige Tochter Noora, die darin zitternd in ihrem Kinderwagen sitzt. Munir ist aus dem Irak geflohen.
"Bitte sagt der Ausländerbehörde, dass wir einen warmen Ort brauchen", fleht er. "Es ist kalt und meine Kinder haben Schwierigkeiten zu atmen. Sie haben Probleme mit der Lunge."
Es war nicht leicht für Munir und seine Frau Lekha, die kleine Noora und ihren acht Jahre alten Bruder Yusuf von Bagdad bis nach Schweden zu bringen. Beide Kinder haben eine körperliche Behinderung. Nachdem man ihnen an der österreichischen Grenze die Rollstühle abgenommen hatte, trug Munir seine Kinder auf dem Rücken weiter.
Dass sein einziger Schutz vor der November-Kälte am Ende ein weißes Plastikzelt in Malmö sein würde, damit hatte der Familienvater nicht gerechnet. Schweden stößt momentan an seine Kapazitätsgrenzen. Jede Woche kommen etwa 10.000 weitere Flüchtlinge ins Land.
Am Donnerstag gaben die zuständigen Ämter bekannt, dass sie nicht länger in der Lage sind, allen Asylsuchenden eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. "Es gibt einfach nicht genug Platz.", erklärte der zuständige Direktor Michael Ribbenvik.
Mohammed Munir aus dem Irak hatte auf eine gewisse Weise sogar noch Glück. Vergangenen Sonntag übernahm die schwedische Einwanderungsbehörde die Halle, in der 2013 der Eurovision Song Contest stattgefunden hatte und funktionierte diese zu einer Notunterkunft um. Hier werden der Iraker und seine Familie bald unterkommen. Wären sie nur drei Tage früher angekommen, hätten sie mit hunderten anderen Flüchtlingen in einem Zelt schlafen müssen, während draußen der Sturm heulte.
Meinungsumfragen prognostizieren Rechtsruck
190.000 zusätzliche Flüchtlinge: Mit dieser Zahl rechnet Schweden allein für dieses Jahr. Das sind doppelt so viele Menschen wie zu Beginn des Jahres erwartet wurden. Wenn die Prognosen stimmen, kommen 2015 auf eine Million Schweden 20.000 Asylbewerber. In Deutschland liegt die Quote bei der Hälfte.
Die Belastungen zeigen sich langsam in allen Bereichen. In der Politik, wo die rechtspopulistischen "Schwedendemokraten" bei zwei von acht Meinungsforschungsinstituten als Partei mit dem größten Zuspruch ermittelt wurden. Und bei den Staatsfinanzen, wo sowohl Zentralregierung als auch viele Gemeinden nach Mitteln suchen, um die Kosten zu bewältigen.
Zu Beginn dieses Monats appellierte Anna Kinberg Batra, Anführerin der schwedischen Mitte-rechts Partei "Die Moderaten" an ihre Regierung, das Dublin-Abkommen anzuwenden. Und zwar so streng, dass jeder Flüchtling, der zuvor einen Fuß in ein anderes EU-Land gesetzt hat, wieder an die Grenze zurück geschickt werden müsse.
"Wenn wir nicht handeln, wird unser System kollabieren", warnte Batra damals. Diese Rhetorik ist eine Kehrtwende für ihre Partei, deren vorheriger Anführer und ehemaliger Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt die Schweden 2014 dazu aufrief, "ihre Herzen zu öffnen für Menschen, die unter großen Strapazen geflohen seien". 2013 traf seine Regierung die folgenschwere Entscheidung, allen Syrern ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu gewähren.
Flüchtlinge aus Nahost am Polarkreis
In ihrer jährlichen Finanz-Prognose für 2015 sprach die Einwanderungsbehörde von 70 Milliarden schwedischer Kronen (7,5 Mrd. Euro) extra, die über die nächsten zwei Jahre finanziert werden müssten. Der Betrag ist identisch mit dem schwedischen Jahresbudget für Schulen, Universitäten und Forschung.
Malmös größtes Problem ist die Zahl unbegleiteter, minderjähriger Flüchtlinge. Um sie müssen sich die Gemeinden sofort kümmern. Andere Flüchtlinge hingegen werden oft irgendwohin verteilt. Angesichts des Platzmangels, muss die Behörde einige Asylsuchende auch weit weg im Norden des Landes unterbringen. Zum Beispiel in Riksgränsen, einem Ski-Ort, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises.
"Malmö ist zu einer Art Transit-Stadt für die Menschen geworden" sagt Marie Olsson, die hier die lokale Gesundheitsbehörde leitet. Nachdem die Flüchtlinge registriert seien, würden alle auf Busse verteilt. Olsson: "Wir haben in Malmö keinen Platz mehr. Es ist überall voll."
Vergangenen Monat eröffnete sie eine Notfall-Klinik, in der freiwillige Ärzte und Krankenschwestern arbeiten. "Die Angst, die ich habe ist, dass die Freiwilligen müde werden", sagt Olsson. "Es sind immer dieselben Leute, die arbeiten acht Stunden in ihren normalen Jobs und kommen danach noch hierher." Gemeinden überall im Land versuchen nun tausende Lehrer aus dem Ruhestand zurück zu holen, damit sie den Neuankömmlingen Schwedisch beibringen.
"Möge Gott ihnen helfen"
Am Mittwoch kamen erste Nachrichten, dass sich durch die verschärften Grenzkontrollen die Zahl der Flüchtlinge reduziert hätte, auf 600 pro Tag. Zuvor waren es zwischen 1200 und 1700 Menschen. "Seit man damit begonnen hat, auf den Fähren die Pässe zu kontrollieren, setzen immer weniger Flüchtlinge von Deutschland aus über", sagt Tobias Aakerman, Pressesprecher der Ausländerbehörde für Süd-Schweden.
Die Flüchtlinge selbst reagieren mit Wut und Verständnis zugleich. "Was glauben Sie, wie es in so einem Zelt ist?", fragt ein Flüchtling namens Bilal. Mohammed Munir hingegen findet, Schweden tue sein Bestes. "Möge Gott ihnen helfen. Sie haben mehr Probleme, als sie lösen können", sagt der Familienvater aus dem Irak.