Schweden: Freiwillig gegen die zweite Welle
8. November 2020"Die Entwicklung geht schnell in die falsche Richtung", schrieb Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven am Donnerstag auf Facebook. "Mehr Infektionen. Mehr Todesfälle. Das ist eine ernste Situation." Der Post war der erste, den Löfven aus der vorsorglichen Selbstisolation absetzte: Jemand in seinem Umfeld habe Kontakt mit einer Person gehabt, die positiv auf COVID-19 getestet worden sei.
Damit geht Löfven weit über die von ihm mit verantwortete Gesetzeslage hinaus: Kontaktpersonen zweiten Grades werden in fast keinem Land der Welt unter Quarantäne gestellt; erst recht nicht in Schweden. Das skandinavische Land verzichtet bis heute fast gänzlich auf verbindliche Regeln, sondern versucht, die Pandemie über Handlungsempfehlungen in den Griff zu bekommen: "Wenn Sie bestätigt mit COVID-19 infiziert sind, sollten Sie mindestens sieben Tage ab Ausbruch der Krankheit zu Hause bleiben", empfiehlt die Gesundheitsbehörde auf ihrer Webseite. Die Frage, ob man die Empfehlungen befolgen müsse, wird mit "Ja und Nein" beantwortet.
Die Behörde mit ihrem Staatsepidemiologen Anders Tegnell ist die Kommandozentrale der Pandemiebekämpfung; in Skandinavien üben derartige Fachabteilungen schon immer viel Einfluss auf die Politik aus.
Einsame Kritik
Wie ganz Europa erlebt auch Schweden in diesen Wochen eine zweite Welle der Corona-Pandemie - am Mittwoch wurde mit 4497 ein neuer Höchstwert bei den täglichen Neuinfektionen registriert. An seinem inzwischen weltbekannten "schwedischen Sonderweg" der Pandemiebekämpfung hält das Land derweil unbeirrt fest. Die Philosophie dahinter: Wenn man an die Vernunft der Bevölkerung appelliert, statt sie zu Einschränkungen zu zwingen, sei die Akzeptanz dafür auf lange Sicht höher.
Eine der Kritikerinnen der ersten Stunde ist Lena Einhorn: Die 66-jährige Filmemacherin, Schriftstellerin und frühere Virologin veröffentlichte im April gemeinsam mit 21 Gleichgesinnten eine umfangreiche und wissenschaftlich begründete Kritik am schwedischen Corona-Management. Im DW-Interview sagt sie, Schweden sei - wie schon im Frühjahr - einmal mehr stärker betroffen als seine Nachbarländer. "Und der Unterschied ist, dass sie andere Restriktionen haben als wir." Dänemark hat gerade auf ein Ampelsystem mit weitreichenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens umgestellt, Norwegen hat ein verpflichtendes Homeoffice für Risikogebiete verhängt.
Maskenloses Schweden
Ein entscheidender Unterschied fällt sofort im Straßenbild auf, sagt Einhorn: "Wenn man in Stockholm durch die Straßen geht oder ein Geschäft besucht, trägt dort niemand eine Maske! In Verkehrsmitteln sieht man vereinzelt Menschen damit. Es ist regelrecht tabu, Maske zu tragen."
Zu Beginn der Pandemie war das noch weniger klar, aber inzwischen gilt es als wissenschaftlich gesichert, dass das Coronavirus zu weiten Teilen an seiner Ausbreitung gehindert wird, wenn jeder einen Mund-Nasen-Schutz trägt. Auch in Norwegen, Finnland und Dänemark gehören Masken inzwischen dazu, sagt Lena Einhorn: "Sie waren auch spät dran, aber jetzt nutzen alle anderen skandinavischen Länder Gesichtsmasken. Es gibt nur noch eine Handvoll Länder, die weiter darauf verzichten, und Schweden ist eines davon."
Die fünf Phasen des schwedischen "Sonderwegs"
Dass Schweden seine Corona-Strategie grundlegend ändert, erwartet Lena Einhorn auf absehbare Zeit nicht. Die kritischen Fragen bei Pressekonferenzen kämen hauptsächlich von ausländischen Reportern - denn im Ausland hat sich der Blick auf die schwedische Corona-Strategie seit Beginn der Pandemie mehrfach gewandelt. "Zuerst sagten sie: 'Wow, vielleicht haben sie ja Recht'", sagt Einhorn. "Dann gab es immer mehr Tote in Schweden, wir wurden zum Monster, jeder hielt Schweden für verrückt." Zeitweise war Schweden das Land mit der höchsten Todesrate weltweit, weil in Schweden viele Senioren starben. Anderswo waren alte Menschen effektiver vom Infektionsgeschehen abgeschirmt worden.
Dann kam die nächste Phase, sagt Lena Einhorn: "Im Sommer, mit weniger Toten, wurde Schweden wieder zum Himmel auf Erden. Als dann im Herbst in vielen Ländern die Fallzahlen stiegen und es Widerstand gegen einen neuen Lockdown gab, wurde Schweden zum libertären Idol. Das ist Schweden aber auch schon nicht mehr, seit die Fälle auch hier wieder hochgehen."
In der schwedischen Bevölkerung ist der Rückhalt für die Gesundheitsbehörde und den Staatsepidemiologen Tegnell ungebrochen. In den Nachbarländern sind die Regierungen früher oder später teilweise vom Kurs ihrer Behörden abgewichen und haben zunehmend Verordnungen statt Empfehlungen verhängt. Die schwedische Regierung könnte sich das kaum leisten, glaubt Einhorn: "Unsere Regierung hat recht wenig Rückhalt - solange die Gesundheitsbehörde beliebt ist, wird die Regierung wahrscheinlich nicht dagegen ankommen."
Und so baut Schwedens Regierung mitten in der zweiten Welle der Pandemie weiter auf Freiwilligkeit. Am Freitag, an Tag Eins seiner Quarantäne, schrieb Ministerpräsident Löfven auf Facebook: "Bleiben Sie auf dem Laufenden und befolgen Sie die Ratschläge."