Schweizer entscheiden über Zuwanderung
29. November 2014Die Zuwanderung beschränken, um die Ressourcen zu schonen: Die Volksinitiative "Stopp der Überbevölkerung - zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen" will die jährliche Nettozuwanderung (Einwanderer minus Auswanderer) in der Schweiz auf 0,2 Prozent der Bevölkerung beschränken. Damit läge die Obergrenze bei rund 16.000 Menschen - bisher kommen im Schnitt etwa 80.000 Menschen ins Land. Eine weitere Forderung: Zehn Prozent der Entwicklungshilfe sollen in Verhütungsprogramme in ärmeren Ländern fließen. Am Sonntag (30.11.2014) stimmen die Schweizer per Volksabstimmung darüber ab.
Die Vereinigung Umwelt und Bevölkerung (Ecopop) hat die Initiative ins Leben gerufen. Die Bewegung wurde Anfang der 1970er-Jahre gegründet, um auf die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf die Umwelt und die begrenzten Ressourcen aufmerksam zu machen. Sie begründen ihre Forderung damit, dass die Schweiz eines der am dichtesten bewohnten Länder in Europa sei und die derzeitige Zuwanderungsrate umweltschädigend.
Kritiker werfen der Initiative Rassismus und Fremdenhass vor. Das weist die Ecopop-Vizepräsidentin Sabine Wirth zurück: "Wir geben nicht vor, wer kommen darf. Wir sagen nur, es sollten weniger sein." In der Schweiz leben derzeit etwa 8,14 Millionen Menschen. Die Bevölkerung steigt, vor allem wegen der Zuwanderung, pro Jahr um mehr als ein Prozent.
Kleines Land, große Bevölkerung
Das Schweizer Bundesamt für Statistik schätzt, dass die Einwohnerzahl bis 2035 auf etwa 8,84 Millionen steigen wird. Ecopop rechnet dagegen mit viel höheren Zahlen. Danach könnten 2025 mehr als zehn Millionen Menschen in der Schweiz leben und 2050 bis zu 13,8 Millionen, falls die Zuwanderung nicht eingeschränkt wird.
Die Regierung und die großen Parteien haben sich alle gegen die Volksinitiative ausgesprochen. Ihrer Ansicht nach können die Umweltprobleme damit nicht gelöst werden, außerdem schädige sie die Wirtschaft. Justizministerin Simonette Sommaruga sagte, "Stopp der Überbevölkerung" habe negative Folgen für Schweizer Unternehmen, die Fachkräfte auch aus dem Ausland einstellen können müssen, falls es keine geeigneten Arbeiter im Land gebe. "Die Schweizer Wirtschaft würde die jetzt vorhandene Flexibilität verlieren", sagte sie dem Fernsehsender RTS. "Die Ecopop-Initiative setzt starre Obergrenzen. Die würden es Schweizer Unternehmen nicht mehr erlauben, ihren Arbeitskräftebedarf in Zeiten guter Konjunktur zu decken."
Der Verband der Schweizer Unternehmen teilt die Ansicht der Regierung. Eine Obergrenze von 16.000 Zuwanderern drossle die wirtschaftliche Entwicklung. "Das Land braucht gut ausgebildete Arbeitskräfte aus dem Ausland, um den demografischen Wandel auszugleichen", sagt Chef-Ökonom Rudolf Minsch.
Ein Kommen und Gehen
Ecopop reagiert auf die Kritik mit dem Hinweis, dass eine auf 16.000 Menschen reduzierte Nettozuwanderung trotzdem 91.000 Menschen die Einwanderung ermögliche - schließlich verließen 75.000 Menschen jedes Jahr die Schweiz. Vizepräsidentin Wirth betonte zudem: "Mit einer mehr oder weniger stabilen Bevölkerung sollte es möglich sein, eine gute und nachhaltige Wirtschaft zu haben."
Die Initiative will außerdem die Bevölkerungszahl reduzieren, indem die Schweiz verpflichtet werden soll, zehn Prozent der Entwicklungshilfe für Familienplanung - besonders in ärmeren Ländern - auszugeben. Die Befürworter argumentieren, dass freiwillige Familienplanung von den Vereinten Nationen 1968 zum Grundrecht erklärt wurde. Hilfsorganisationen lehnen die Forderung ab und werfen Ecopop neokolonialistisches Gebaren vor. "In den armen Ländern fehlen keine Verhütungsmittel, sondern medizinische Versorgung, Bildung und Einkommen", sagt Peter Niggli, Direktor der Alliance Sud, einer Vereinigung der sechs großen Schweizer Hilfswerke.
Der Schweizer Sonderweg
Kurz vor dem Volksentscheid am Sonntag sagen Umfragen keine Mehrheit für die Initiative voraus. 56 Prozent der Befragten sind dagegen. Allerdings betont der Meinungsforscher Claude Longchamp, dass es Wähler gebe, die der Regierung einen Denkzettel verpassten wollten - und deshalb vielleicht doch für die Initiative stimmten. Bisher findet das Vorhaben vor allem Unterstützung bei Regierungskritikern und Niedriglöhnern. Ebenso wie die anderen großen Parteien ist auch die rechtsnationale Schweizer Volkspartei (SVP) offiziell gegen die Initiative. Allerdings sagten 60 Prozent ihrer Wähler, sie würden die Obergrenze für Zuwanderer begrüßen.
Die Ecopop-Initiative bedroht auch das ohnehin angespannte Verhältnis zur EU. Erst im Februar hatten die Schweizer per Volksabstimmung einer SVP-Initiative über die Einwanderungskontingente zugestimmt. Die Regierung hat sie bisher nicht umgesetzt, hat aber noch zwei Jahre Zeit dafür. Wenn solche Kontingente aber kämen, würde es die bilateralen Beziehungen schwer beschädigen. Sie widersprechen nämlich klar dem Freizügigkeitsabkommen, das die Schweiz mit der EU verbindet. Die meisten Schweizer Politiker und Wirtschaftsvertreter sind sich einig: Wenn auch die neue Initiative eine Mehrheit findet, wäre das das Ende der bilateralen Beziehungen mit der EU.