Berliner Philharmoniker wählen neuen Chef
11. Mai 2015Die Berliner Philharmoniker sind selbst gespannt. "Wir sind nicht in der Ruhe vor dem Sturm, wir sind mitten im Sturm!" bekennt Ulrich Knörzer aus dem Orchestervorstand. Heute wählen 124 stimmberechtigte Orchestermitglieder ihren neuen Chefdirigenten. Die Entscheidung scheint noch vollkommen offen, doch die Gerüchteküche brodelt bereits. Ulrich Knörzer bleibt gelassen: "Sir Simon Rattle wird sich 2018 verabschieden, das ist ein Faktum, aber auf dieser Grundlage freuen wir uns dann auf die Zukunft, mit wem auch immer."
Dabei hat Sir Simon Rattle seine Koffer längst noch nicht gepackt. In den nächsten drei Jahren seiner Amtszeit hat er mit dem Orchester große Pläne. Allein in der kommenden Saison stehen 64 Konzerte und zehn Opernaufführungen an. Außerdem die Dirigentenkür: Die Berliner Philharmoniker werden einen neuen Zyklus der neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven einstudieren und damit weltweit auf Tournee gehen.
Begehrter Posten ohne Stellenausschreibung
Langfristige Verpflichtungen haben auch andere Spitzendirigenten, deshalb suchen die Berliner Philharmoniker bereits seit zwei Jahren einen neuen Leiter, seit der Brite Sir Simon Rattle verkündet hat, dass er seinen Vertrag nicht verlängern möchte.
Der Posten ist begehrt, aber die Philharmoniker wollen nicht nur einen Chefdirigenten, sondern einen Konzertmeister, der Verantwortung für die ganze Institution samt seiner Konzerthäuser und seiner Mitarbeiter übernimmt.
Die Orchestermitglieder können unabhängig von ihrem Arbeitgeber, dem Berliner Senat, frei auswählen und entscheiden unter allen derzeitigen Dirigenten. Das ist weltweit ein einmaliges Privileg. In die engere Wahl kommen erfahrungsgemäß allerdings nur die, mit denen das Orchester bereits zusammen gearbeitet hat. An einem noch unbekannten Ort treffen die Musiker dann zusammen, um ihren Favoriten in geheimer Abstimmung zu wählen.
Zurzeit wird bereits an einer Shortlist gearbeitet. "Eine Liste der Kandidaten, über die wir dann weiter sprechen, um die Diskussion nicht zu weit in die Breite zu tragen", erläutert Ulrich Knörzer. Erst wenn ein Kandidat mit deutlicher Mehrheit feststeht, ist die Sitzung beendet und der oder die Auserwählte wird direkt informiert und kann die Wahl annehmen oder ablehnen. Er oder sie tritt in große Fußstapfen, auch wenn die Liste der Vorgänger mit einem halben Duzend seit der Gründung des Orchesters 1882 überschaubar ist.
Die Geister der Ahnen
Mit jedem neuen Chefdirigenten haben die Berliner Philharmoniker ihren Klang und ihren Ruhm weiter entwickelt. Die Geister dieser Ahnen, so meinte Simon Rattle 2004 in einem DW-Interview, seien lebendig und spürbar. "Der Klang, der aus der Tiefe der Erde erwächst, dieser lange singende tiefgründige Klangbogen, das stammt direkt von Furtwängler." Wilhelm Furtwängler, der das Orchester 1922 nach Hans von Bülow und Arthur Nikisch übernahm, machte die Philharmoniker mit seiner Interpretation klassischer und romantischer Werke weltweit bekannt.
Der große Maestro Herbert von Karajan kam 1954 und blieb 34 Jahre, länger als jeder andere. Er entlockte dem Orchester satte Klänge und zuweilen flotte Tempi. Dem "Klangmagier", wie er genannt wurde, ging es nicht um werkgetreue Aufführungspraxis, sondern um seine eigene Interpretation der Musik. "Sie haben etwas, was Sie innerlich hören und wollen es in Übereinklang bringen mit dem, was Sie wirklich hören. Und wenn Sie plötzlich ganz konform sind mit dem, was Sie erhofft haben, das ist die Gnade des Lebens", erzählte er der Deutschen Welle 1982.
Der Italiener Claudio Abbado, der die Leitung 1989 übernahm, hielt es dagegen demokratisch. "Wir sprechen zusammen, um herauszufinden, was für die Musiker besser ist. Ich bin nicht der Chef, Maestro oder Boss. Ich bin Claudio und wir machen gute Musik." Mit vielen jungen Neubesetzungen wurden die Philharmoniker unter seiner Leitung zu einem weltoffenen und interessierten Orchester.
Alt erfahren oder jung und multimedial?
Sir Simon Rattle führte diese Öffnung ab 2002 weiter fort, getreu seinem Credo: "Wir müssen Musik zu den Leuten bringen, auch zu denen, die normalerweise keine klassische Musik hören." Er entwickelte ein umfangreiches "Education Program" für Jung und Alt mit Kompositionswerkstatt und Kreativorchester. Mit der "Digital Concert Hall" schuf er die Möglichkeit, die Konzerte der Philharmoniker live oder auf Abruf zu Hause zu hören. Kritiker meinen, Rattle tanze auf zu vielen Hochzeiten und habe sich zu wenig um das klassische deutsche Repertoire des Orchesters gekümmert. Genau diese Kritik macht die Wahl spannend.
Werden sich die Orchestermitglieder jemanden aussuchen, der sich - anders als Rattle - stärker über ein ausgewähltes Repertoire definiert oder wieder einen Tausendsassa, der im übertragenen Sinne auf allen Tasten der Klaviatur spielen kann, sowohl musikalisch als auch organisatorisch und vermarktungstechnisch? Namen alter Hasen wie Daniel Barenboim oder Mariss Jansons schwirren genauso durch die Luft wie die junger Dirigenten, als da wären: der Lette Andris Nelsons, der Venezolaner Gustavo Dudamel oder - nicht mehr ganz so jung - der Berliner Christian Thielemann.
Sir Simon Rattle bleibt bei all den Spekulationen gelassen. Sowohl er als auch Intendant Martin Hoffmann sind nicht wahlberechtigt. 2017 wird Rattle das London Symphony Orchestra übernehmen. Ein, wie er sagt, "bewegliches und zukunftsorientiertes Orchester", mit dem er etwas Neues aufbauen will. Zumindest 2017, in der Übergangszeit, wird er einen Koffer noch in Berlin lassen müssen. Aber auch danach ist anzunehmen, dass Rattle den Berliner Philharmonikern als Gastdirigent erhalten bleibt.