Selbstmord-Brigade in neuer Taliban-Armee?
9. Januar 2022Sowohl die Taliban als auch die radikale islamistische Gruppe "Islamischer Staat in Afghanistan" (IS-K) haben im Kampf gegen die ausländischen Truppen und gegen die vom Westen gestützte Regierung in Kabul zahllose Selbstmordanschläge verübt. Dass dabei auch Zivilisten, vor allem aus der eigenen Bevölkerung, getötet und verstümmelt wurden, wurde von beiden Gruppen in Kauf genommen.
Der IS-K und die Taliban sind ungeachtet dieser Übereinstimmung in der Wahl der Mittel miteinander verfeindet. Auch nach der Machtübernahme der Taliban im vergangenen August hat der IS-K seine Terroraktivitäten gegen schiitische Einrichtungen und Moscheen in Kabul und in den östlichen und südlichen Provinzen Kundus, Nangarhar und Kandahar verstärkt und dabei auch auf die besonders verheerend wirkenden Selbstmordattentate gesetzt. Die Taliban-Führung verkündete Mitte November als Reaktion eine Gegenoffensive gegen IS-Stützpunkte und -Verstecke.
Ehrung für Selbstmord-Attentäter
Das ist als Teil des Versuchs der neuen Herren in Kabul zu sehen, nach ihrem Sieg eine neue Ordnung in Afghanistan zu errichten und Legitimität bei der Bevölkerung zu erringen. Das bedeutet aber nicht, dass die neue Führung auf Abstand zu Selbstmordattentaten ginge. Dass sie dieser Form des Kampfes auch im Rahmen einer neuen staatlichen Ordnung keineswegs abschwört, wurde auf einer Siegesparade kurz nach der Machtübernahme durch die Taliban deutlich, bei der Einheiten von potentiellen Selbstmordattentätern mitsamt ihren Sprengwesten präsentiert wurden.
Mitte Oktober bekräftigte der amtierende Innenminister Siradschuddin Haqqani ihre wichtige Rolle im Sieg über die "Ungläubigen", also NATO und pro-westliche Kabuler Regierung. Er traf sich mit Hinterbliebenen von Attentätern in einem Hotel in Kabul. "In seiner Rede lobte der Minister den Dschihad und das Opfer, welches die Märtyrer und Mudschaheddin gebracht hätten, und nannte sie Helden des Islams und des Landes", teilte ein Sprecher des Ministeriums per Twitter mit. Die Angehörigen der Selbstmordattentäter wurden laut Innenministerium mit rund 100 Dollar an Bargeld, mit Kleidung und dem Versprechen auf Landbesitz belohnt.
"Märtyrerbrigaden werden Teil der Armee"
Die Taliban-Führung rief auch eine neue "Märtyrerbrigade" aus potentiellen Selbstmordattentätern ins Leben, wie Radio Free Europe (RFE) Anfang vergangenen November berichtete. Das Foto einer entsprechenden Tafel mit der Aufschrift "Büro der Märtyrer-Brigade" im Kabuler Verteidigungsministerium kursiert derzeit in sozialen Netzwerken.
Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid hatte kurz nach dem Jahreswechsel in einem Interview mit RFE bestätigt, dass die Taliban Selbstmordattentäter in die afghanischen Armee aufnehmen wollen. "Unsere Märtyrerbrigaden werden Teil der Armee werden und dort als Spezialeinheiten fungieren".
Was steckt hinter neuer "Märtyrer-Brigade"?
Die Taliban-Führung kündigte laut RFE bereits im Oktober an, die "Märtyrerbrigade" an die Grenze zu Tadschikistan zu verlegen. Mitglieder der Brigade gaben gegenüber RFE zu Protokoll, sie seien für die Verteidigung ihres Landes "zu allem bereit". Zuvor hatte die Führung des nördlichen zentralasiatischen Nachbarlandes die fast ausschließlich paschtunisch geprägte Zusammensetzung der Taliban-Regierung kritisiert.
Das Kabuler Verteidigungsministerium wollte hingegen auf Nachfrage der DW die Aufnahme von Selbstmordattentätern in die afghanischen Armee nicht bestätigen. Sprecher Enayatullah Khwarizmi sagte: "Eine Spezialeinheit von Selbstmordattentätern wird es nicht geben. Sie werden in die Armee aufgenommen. Sie sind bereit ihr Leben für Afghanistan zu opfern, wie alle anderen Soldaten."
Die unklare offizielle Haltung der Taliban-Regierung in Bezug auf die Rolle von Selbstmord-Kommandos in der neuen Armee entspricht der Analyse des von RFE zitierten afghanischen Journalisten und Taliban-Kenners Sami Yousufzai: Gemäßigte Stimmen innerhalb der Taliban seien gegen die Verherrlichung von Selbstmordanschlägen, da ihnen das die Unterstützung im Innern und die Anerkennung des Auslands erschwere. Die derzeitige Hardliner-Führung "sonnt sich allerdings lieber in ihrem Ruhm und feiert ihren Sieg und die Taktik der Selbstmordanschläge, die viele zivile Opfer forderte, anstatt die Afghanen durch ein Narrativ des Friedens zu einigen."
Über wie viele potenzielle Selbstmordattentäter die Taliban verfügen, ist nicht bekannt. Laut einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums soll die neue afghanische Armee eine Stärke von 100.000 Mann haben. Vor dem Machtwechsel im August bestand die afghanische Armee aus etwa 300.000 Soldaten, zumindest auf dem Papier. Laut dem ehemaligen Finanzminister Khalid Payenda waren es in Wahrheit eher 50.000 Soldaten. In einem Interview mit der BBC im November warf er "korrupten" Offizieren vor, die Regierung mit nicht vorhandenen "Geistersoldaten" getäuscht zu haben, um Gelder zu erschwindeln.