Selenskyj beim EU-Gipfel
8. Februar 2023Nach einem Besuch in Großbritannien und einem abendlichen Treffen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz ist der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag in Brüssel eingetroffen. Dort spricht er vor dem Europäischen Parlament und nimmt als Gast am EU-Gipfel der 27 Regierungschefs und -chefinnen teil.
In der zuständigen Protokollabteilung des Europäischen Rates herrschte in den Stunden vor Selenskyjs Eintreffen helle Aufregung. Der Besuch des Präsidenten, der erst zum zweiten Mal seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 sein bedrängtes Land verlässt, stellte höchste logistische und sicherheitstechnische Anforderungen. Schließlich hatte die russische Führung kurz nach Beginn des Krieges die Beseitigung Selenskyjs als eines ihrer Kriegsziele genannt. Der Präsident wird von Dutzenden Sicherheitskräften bewacht. Seine Reiseroute, die Zeitpläne seiner Besuche, der Ort der Übernachtung unterlagen strenger Geheimhaltung.
Erst USA, dann Europa
Wolodymyr Selenskyj war kurz vor Weihnachten überraschend nach Washington gereist, sprach dort vor dem Kongress und mit US-Präsident Joe Biden. Das war das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass er sein Land verließ. Damals war klar, dass die USA als größter Unterstützer und Geldgeber für den Kampf der Ukraine gegen russische Angriffe gewürdigt werden. Mit der Europatournee zeigt der ukrainische Präsident nun den Europäern seine Verbundenheit und Dankbarkeit für Waffenlieferungen, humanitäre Hilfe, die Aufnahme von Flüchtlingen und die Zusage, mit der Ukraine Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäischen Union aufzunehmen. Bisher war Selenskyj immer nur per Video zu jedem EU-Gipfel seit Februar 2022 zugeschaltet worden. Dieses Mal handelt es sich wohl vor allem um einen symbolischen Besuch bei den EU-Granden in Brüssel. Konkrete Beschlüsse werden nicht erwartet. Die EU wird der Ukraine erneut jedwede Unterstützung gegen Russland zusichern, so lange diese nötig ist.
Das nächste Ziel sind Jets
Nachdem Deutschland nach langem Zögern bis zum Jahresende die Lieferung von Kampfpanzern der Typen Leopard 1 und 2 in die Ukraine ermöglichen will, beginnt jetzt eine neue Diskussion. Es geht um Kampfjets aus NATO-Staaten. In Großbritannien forderte Wolodymyr Selenskyj seine westlichen Partner auf, der Ukraine moderne Jets zu liefern. Die britische Regierung bestätigte, dass bereits ukrainische Piloten in Großbritannien ausgebildet werden. Dem Sprecher des britischen Unterhauses überreichte Selenskyj einen Pilotenhelm mit der Aufschrift "Wir haben die Freiheit. Gebt uns Flügel, um sie zu verteidigen." Deshalb bitte er um Flugzeuge, so der Präsident. Auch beim EU-Gipfel wird der ukrainische Staatschef, der stets in einem schlichten oliv-farbenen Pullover auftritt, um mehr Waffen und einen schnellen Beitritt zur EU bitten.
Vergangenen Freitag waren hohe Vertreter der EU-Kommission zu einem förmlichen Gespräch über Beitrittsverhandlungen nach Kiew gereist. Konkrete Zusagen oder Zeitpläne wurden nicht vereinbart. Die Ukraine müsse zuvor noch eine Reihe von Bedingungen erfüllen, besonders bei der Bekämpfung von Korruption, hieß es von Seiten der EU. Das Land hatte im letzten Frühjahr in einem nie dagewesenen Eilverfahren zusammen mit der Republik Moldau den Status eines "Beitrittskandidaten" erhalten. Einen tatsächlichen Beitritt zur Union können sich in Brüssel nur wenige EU-Diplomaten vorstellen, solange die Ukraine angegriffen wird und Teile des Landes von Russland besetzt oder gar annektiert gehalten werden. Es gibt allerdings ein Vorbild: Die Mittelmeerinsel Zypern trat 2004 bei, obwohl der Norden des Landes bis heute völkerrechtswidrig von türkischen Truppen besetzt ist.
EU will Druck auf Russland erhöhen
Beim Gipfel mit dem ukrainischen Präsidenten werden die EU-Chefinnen und Chefs versichern, dass sie alles tun werden, um beschlagnahmte Vermögen der russischen Staatsbank zum Wiederaufbau in der Ukraine zu nutzen. Noch haben einige EU-Staaten rechtliche Bedenken. Die EU will sich dafür einsetzen, beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine besondere Stelle für Ermittlungen gegen russische Kriegsverbrecher einzurichten. Die Europäische Union will noch vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns in zwei Wochen ein zehntes Paket mit Sanktionen gegen Russland auf den Weg bringen. Bestehende Sanktionen sollen nachgeschärft und besser durchgesetzt werden.
Nach Einschätzung des grünen Europa-Abgeordneten Rasmus Andresen geht es für Bundeskanzler Olaf Scholz bei diesem Gipfeltreffen der EU darum, verlorenes Vertrauen wieder aufzubauen. Andresen, dessen Partei in einer "Ampelkoalition" mit Sozialdemokraten und Liberalen in Berlin die Bundesregierung stellt, sagte in Brüssel, nachdem Deutschland nun endlich Panzer liefere, müsse Kanzler Scholz zu einer europäischen Führungsperson reifen. "Er wird der hohen Erwartungshaltung gegenüber der Bundesrepublik nicht gerecht. Er muss vom Bremser zum Brückenbauer werden."
Migrationspolitik in der zweiten Reihe
Gegenüber dem Besuch von Wolodymyr Selenskyj in Brüssel treten andere Themen, die ursprünglich auf diesem informellen Sondertreffen behandelt werden sollten, in den Hintergrund, zum Beispiel die gemeinsame Migrationspolitik der EU. Hier können sich die Mitgliedsstaaten seit Jahren nicht auf neue Asylregeln, eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen oder schnellere Rückführungen abgelehnter Asylbewerber einigen. Angesichts wachsender Zahlen von Migranten aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderer Staaten im Mittleren Osten wollen die Staats- und Regierungschefs neuen Schwung in die Debatte bringen.
Nach den bereits vorformulierten Gipfeldokumenten, die die DW einsehen konnte, konzentriert sich die Debatte auf einen besseren Schutz der Außengrenzen, also das Abweisen irregulär einreisender Menschen. Außerdem soll eine bessere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern bei der Rücknahme abgelehnter Asylbewerbern durchgesetzt werden. Die EU-Kommission empfiehlt dazu, alle Instrumente wie zum Bespiel Entwicklungsgelder, Handelsverträge oder Visa-Abkommen als Druckmittel zu nutzen.
"Wir halten nichts davon, Hebel der Entwicklungshilfe oder der Handelspolitik einzusetzen", kommentierte die deutsche Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Anna Lührmann, diesen Vorschlag bei der Vorbereitung des Gipfeltreffens am Dienstag. Österreich und andere Staaten hatten im Vorfeld des Gipfels EU-Gelder zum Bau von mehr Zäunen an den Außengrenzen verlangt. Das wird der Gipfel voraussichtlich auch wegen Widerstands aus Deutschland nicht beschließen. Lediglich Ausrüstung von Grenzposten und Überwachungstechnik an den Grenzen soll wie bisher mit EU-Geld kofinanziert werden.
In Deutschland beklagen inzwischen viele Städte und Kommunen, dass sie die wachsende Zahl von Migranten zusammen mit den Flüchtlingen aus der Ukraine nicht mehr vernünftig unterbringen können. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will noch in diesem Monat einen zweiten Migrationsgipfel in Deutschland veranstalten und verweist dabei auf die Bemühungen der EU, die Migrationspolitik zu reformieren.