Völkermord geleugnet
9. Juni 2012Der neue serbische Präsident erklärte in einem Interview mit dem montenegrinischen Fernsehen, es sei "sehr schwierig, vor Gericht zu beweisen, dass ein Ereignis die Form eines Völkermordes hatte". In Srebrenica seien "von einigen Serben schwere Kriegsverbrechen begangen worden", fuhr er fort. Diese sollten "aufgespürt, strafrechtlich verfolgt und bestraft" werden.
Anders sehen das sowohl der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) als auch der Internationale Gerichtshof (IGH): Beide haben die Ermordung von mehr als 8000 Bosniaken durch serbische Truppen im Juli 1995 als Völkermord eingestuft. Zwar sprachen sie Serbien von einer direkten Beteiligung an dem Massaker frei. Das Land habe jedoch gegen internationales Recht verstoßen, da es das Massaker nicht verhindert und nicht dazu beigetragen habe, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.
"Neue Missverständnisse und Spannungen"
Nikolics Amtsvorgänger Boris Tadic setzte unter anderem durch, dass das Belgrader Parlament das Massaker von Srebrenica verurteilte. Außerdem lieferte er den ehemaligen bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic und den bosnisch-serbischen Armeechef Ratko Mladic an das UN-Tribunal aus. Diese politischen Entscheidungen kamen zwar spät (Karadzic wurde 2008 ausgeliefert, Mladic drei Jahre später), sie waren aber immer noch im Einklang mit der pro-europäischen Richtung Serbiens und erleichterten auch die regionale Zusammenarbeit. Jetzt dreht Tomislav Nikolic - zumindest verbal - das Ganze wieder um und stellt den ohnehin schleppenden Versöhnungsprozess auf dem Balkan erneut in Frage.
Die Nachbarn zeigen sich enttäuscht: Der Vorsitzende der Staatspräsidentschaft von Bosnien und Herzegowina, Bakir Izetbegovic, zweifelt an Nikolics Willen zu guten Beziehungen mit den Nachbarländern. "Den Völkermord von Srebrenica zu leugnen ist kein Schritt auf dem Weg zur Kooperation und der Wiederherstellung von Vertrauen, sondern das genaue Gegenteil." Nikolics Äußerungen seien "Anlass zu neuen Missverständnissen und Spannungen" in der Region.
Nicht der erste verbale Ausrutscher
Noch vor seinem Wahlsieg hatte der Nationalist Tomislav Nikolic mit einer Interview-Äußerung in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auch in Kroatien Entrüstung und Proteste ausgelöst. Hier behauptete er, dass Vukovar (im Osten Kroatiens) eine "serbische Stadt" sei und Kroaten "keinen Grund hätten, dorthin zurückzukehren". Nikolics Aussage sei nicht im Sinne einer Versöhnungspolitik und führe in die nationalistische Politik der 1990er Jahre zurück, erklärte daraufhin Kroatiens Präsident Ivo Josipovic.
Die kroatische Außenministerin Vesna Pusic erklärte in einem Zeitungsinterview, Nikolic nehme in seinen politischen Äußerungen "keine Rücksicht auf die Außenwirkung oder mögliche internationale oder regionale Folgen". Er konzentriere sich "zu hundert Prozent auf ein serbisches Publikum".
Kritik vom Europarat
Die regionale Organisation "Jugendinitiative für Menschenrechte" bezeichnete Nikolics aktuelle Äußerungen als inakzeptabel und forderte vom serbischen Staatschef, er solle sich bei den Angehörigen der Genozid-Opfer von Srebrenica entschuldigen.
Auch der Europarat kritisierte den serbischen Präsidenten für die Leugnung des Völkermords. Dieses Verhalten werfe einen Schatten auf Tomislav Nikolic, sagte der Vorsitzende des Politik-Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Pietro Marcenaro, in Straßburg. Die Anerkennung der Verantwortung durch alle Konfliktparteien sei eine wesentliche Voraussetzung für die Versöhnung nach den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien.
"Die EU lehnt entschieden jeden Versuch ab, die Geschichte umzuschreiben", kommentierte Pia Arenhilde Hansen, Sprecherin des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. "In Srebrenica wurden Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, und wir sind bereit, dies wiederholt zu betonen", sagte Hansen in Brüssel. Zudem versicherte sie, dass Nikolics Äußerungen beim geplanten Treffen mit Kommissionspräsident Barroso ein Thema sein würden.
Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, verurteilte Nikolics Aussagen in einer Mitteilung auf Twitter als "absurd und gefährlich". Solche Positionen seien eine "Gefahr für die europäischen Ambitionen Serbiens", das seit März den Status eines EU-Beitrittskandidaten hat.